Garten-Werklers Tagebuch: September

Geschrieben und illustriert von: Tiit Kändler
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
September: National-Wolke. – National-Sonne. – National-Pilz. - Der National-Pilz beflügelt uns.
 
Im September denkt der Garten an Gott. Sinnt nach über seinen Platz in dieser Welt, sinnt nach darüber zu verschwinden oder trotz alledem sich die Vitalität zu erhalten, um im Frühjahr zurückzukehren. 
 
Sein oder Nichtsein ist nicht das Thema. Die Frage lautet, ein Garten zu sein oder nicht zu sein. Am Septemberende beginnt der Garten, schütter zu werden, und hinter den Bäumen kann man sich mehr als einen Wald vorstellen.
Pilze wachsen im Garten wie Pilze, und der Pilz ist wie eine Verkörperung der Gedanken des Gartens. Jene geheimnisvolle, seltsame und ein wenig beängstigende, dennoch gleichzeitig lustige Erscheinung, von der wir letztlich nicht einmal wissen, ob wir er oder es sagen sollen, wer oder was. Es/er ist weder eine Pflanze noch ein Tier, oder eine Flechte oder Bakterie und nicht einmal ein Vogel. Aber siehe da, irgendwie geheimnisvoll erscheint er als ob er direkt aus der Unterwelt käme und letztlich steigt er aus dem Boden auf, innerhalb von einem Tag und einer Nacht. Die Tagesarbeit eines Pilzes besteht genau darin, hervor zu quellen und zu wachsen und nicht umsonst heißt es es vom Teig, oh, schau, er geht, verdammt, er quillt über den Rand – die Teig-Triebmittel sind letztlich alles Pilze. Sollten wir „wer“ zum Teig sagen? Aber wie können wir einen „wer“ in den Ofen schieben? Aber andererseits – sagen wir „wer“ zu Teiggesichtern.
Und was aus den Pilzen machen, die uns im Bier die Köpfe schwindelig machen?
 
Offensichtlich kann ein Pilz einem den Kopf schwindeln lassen, sogar außerhalb einer Bierflasche, eine unnennbare Zahl von Pilzsammlern in den Wäldern auf Abwege führend, vorgebend, essbar zu sein, wenn er in Wirklichkeit besonders giftig ist, oder genau dann giftig, wenn er gerade besonders gut zu essen ist. Der Pilzsammler kann außerdem immer sicher sein, dass er ein erstklassiger Mykologe ist, denn wenn er versucht, einen im Wald gefundenen Pilz in der endlosen Sammlung von Pilzbüchern zu finden, die er gekauft hat, dann findet er ihn natürlich nicht – was bedeutet, dass er wieder einmal eine neue Pilzart entdeckt hat.
 
Der Pilz ist ein wichtiger Mittler zwischen Diesseits und Jenseits: nach seinem Genuss sprudeln Weissagungen aus unserem Mund ähnlich rotem Festtags-Heringssalat, und kein einziger Mensch, aber noch der simpelste Pilz kann die Form einer Atombomben-Explosion vorhersagen.
 
Die Frage, wer in der Mehrheit ist – Menschen, die zu den Pilzen [d. h. unter die Erde] geschickt wurden, oder Pilze, die als Botschafter der Pilzwelt in der Bratpfanne landeten, ist eine der brennendsten Fragen des Planeten. Oder wie es dieser Tage ausgedrückt wurde – eine echte Herausforderung. Wenn es uns gelingt, dieses Problem zu lösen, können wir gern Pilze sammeln gehen.
 
Aber merkwürdig ist, da wir doch eine Vielzahl nationaler Dinge haben — welcher ist dann Estlands National-Pilz?
Und wo ist unser National-Pilz? Wir haben sogar eine National-Bibliothek, obwohl keiner mehr Bücher liest, eine National-Oper, obwohl man in die Oper nur noch wegen des Buffets und des Herumwandelns geht, und ein National-Radio, obwohl dies eine Nation von Sportlern ist. Wir haben einen National-Vogel, der nicht für den Kochtopf taugt, und eine National-Blume, die uns weder gesund noch krank macht. Aber — jener, der uns immer durch magere Zeiten hilft, uns gefüllte Mägen und Visionen verschafft, unser geliebter Pilz?
 
Wir haben auch keinen National-Monat, aber der Gartenwerkler ist sich sicher, dass dies nur der September sein kann. Dann scheint die National-Sonne auf uns, eine durchschnittliche estnische Sonne. Die National-Wolke saust dann über den Himmel, eine durchschnittliche estnische Wolke. Und die National-Vögel fliehen in blankem Entsetzen und die National-Blume welkt erbarmungslos. Die National-Oper öffnet ihre Türen und kann sie nicht wieder schließen, weil die National-Angeln [oder auch National-Ohren] verrostet sind und die National-Bibliothek hält Ausschau nach National-Buch-Entwendern.
 
Die erste Kohlmeise erscheint im National-Garten, fliegt sogar zum Fenster, schüttelt herausfordernd den Kopf: also wo ist denn das Futter? Vielen Dank, noch zu früh. Die Wühlmäuse sind besonders eifrig und der Gartenwerkler fürchtet, er könne durch den Gartenboden hindurch treten. Wer lebt wird sehen.
 
In der Tat nehmen wir die Vielfalt der Welt mit unseren Sinnen auf. Alle fünf Sinne sind wichtig, aber der wichtigste von allen ist das Sehen. „Zu sehen ist zu glauben.” „Ich sah es mit eigenen Augen.” So reden wir, wenn wir unseren Standpunkt behaupten wollen.
 
Die Netzhaut des Auges ist wie die Oberfläche des Hirns. Sie ist ähnlich wie das Hirn aufgebaut. Das Auge ist wie eine das Licht wahrnehmende Verlängerung des Gehirns und so mag ein Teil der Farbanalyse in der Netzhaut geschehen. Aber die sonstige und grundlegende Aufgabe verbleibt beim Gehirn, dass das Bild zusammenfügt und das gesamte Farbschema berechnet. Wie man den Garten ansieht, wird im Gehirn entwickelt. Das Auge als Teil des Gehirns, dass von außen auf den Garten schaut, das Gehirn wiederum von innen.
 
Zwischen der Fichte und der Birke wählt das Licht jeweils den Weg, dessen Strecke die kürzeste ist. Man muss kein Mathematiker sein, es reicht, schlicht ein einigermaßen vernünftiger Mensch zu sein, um diese Regel zu verstehen; außer man verirrt sich absichtlich beim Spaziergang, wird man immer den Weg wählen, der einem die kürzeste Trampel- oder Fahrtzeit bietet.
Aber wie weiß das Licht im Voraus die Strecke zu berechnen, die die Kürzeste ist? Das Prinzip der kürzesten Zeit ist mathematisch, und auch menschlich, einfach zu verstehen. Aber wir glauben dennoch nicht, dass Licht bewusst die kürzeste Strecke im Garten wählt. Dieses Prinzip bedeutet, dass der Garten auf seltsame Weise mathematisch beschrieben werden kann.
 
Die Natur des Lichts ist einfach so, dass es die kürzeste Wegstrecke aussucht. Das Licht weiß nicht, dass es den kürzesten Weg wählt. Licht tut nur so, als ob es wüsste. Der Weg des Lichts erscheint fremd und unverständlich — weil er fremd und unverständlich ist. 
 
Je weniger der Gartenwerkler tatsächlich im Garten zu tun hat, desto mehr organisiert der Garten sich selbst, gerade so wie es meistens im September ist. Und desto mehr Philosophie gelangt in den Garten. Was bedeutet es, dass „Glück in unseren Garten fiel“? Und selbst wenn es dies tat – wann wird es wieder verschwinden.


 

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