Gartenwerklers Tagebuch – Michaeli

Geschrieben und illustriert von: Tiit Kändlerteadus.ee
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
Hartriegel
 
29. September
 
Michaeli. Ein guter Zeitpunkt, um des Menschen Verhältnis zum Garten (oder, in allgemeinerer Sprache – sein Verhältnis zur Natur) zu betrachten. Ist es eins zu eins oder eins zu zehn oder eher ein mehr irrationales eins zu ∏?
Ich sah einen Film über den Komponisten John Cage; diese Geschichte ist ihm widerfahren – zuerst entdeckte er, dass man Musik mit allem Möglichen machen kann, dann lebte er irgendwie weit fort von New York, alles zehn Kilometer weit weg. Schreckliche Erfahrung, keine nummerierten Avenues, nur Bäume über Bäume. Er stolperte im Wald herum und plötzlich sieht er – irgendetwas wächst auf dem Waldboden. Bei näherer Betrachtung entpuppte es sich als Pilz. Und der Mann begann, neben der Schaffung seiner einzigartigen Kompositionen, diese stummen Zeugen zu studieren und wurde ein sehr guter Pilzexperte.
 
Aber was geschieht, wenn des Menschen Verhältnis zur Natur völlig verschwindet? Wenn eines Tages der Mensch nicht mehr begreift, ob er draußen ist oder in der Küche, auf einer Wiese oder im Büro, im Wald oder im Hotel? Kann man sagen, dass der Mensch dann wild geworden ist? Aber wie kann der Mensch wild werden, wenn die Wildnis verschwunden ist?
 
Dieser Gedanke machte den Werkler plötzlich glücklich. Wenn die Wildnis verschwindet, gibt es letztlich ein gutes Ergebnis – der Mensch kann nicht mehr wild werden.
 
30. September
 
Es wurde behauptet, dass nichts in der Natur überflüssig sei. Aber gibt es wirklich nichts Überflüssiges in der Natur? Natur sollte alles beinhalten, was wir uns jemals vorstellen können – letztlich reicht das Draußen mindestens bis zu 13,6 Milliarden Lichtjahre weit weg. Wenn wir nun feststellen, dass nichts darin überflüssig ist, dann ist zumindest diese Aussage selbst ziemlich überflüssig. Deshalb gibt es mindestens eine überflüssige Sache.
 
Wir müssen demütig und stumm zugeben, dass es in der allumfassenden Natur gerade ebenso viele überflüssige Dinge gibt wie notwendig, weil wir nicht damit beginnen können, nach Cantor die Kardinalität der Anzahl überflüssiger Dinge gegen die Anzahl der notwendigen Dinge abzuwägen: welche Menge stärker wäre als die andere und welche in die andere hineinpassen würde. Cantor wurde schließlich verrückt am Einfügen von Dingen ineinander. Der Werkler geht lieber hinaus in den Garten.
 
Die Sonne scheint, von links hinter seiner Schulter. Wenn er seine Nase Richtung See wendet, dann ist dies hinter dem Wald.
Die Kornelkirsche ist rot gesprenkelt, präsentiert sich vor den grünen Fichten. Ob notwendig oder überflüssig – gleichwohl schön.
 
 
(Estnisches Original veröffentlicht am 30. Sept.)


 

EST EN DE ES RU  FORUM

       

Nachrichtenarchive