Dritte April-Woche: Die Natur frohlockt und singt

Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
 
Rotkehlchen
 
Das frühlingszarte Grün der Grasfläche hat der kühle Frühjahrsregen sauber gewaschen. Auf jedem frisch gewachsenen Grashalm schimmert ein Regentropfen. Auf dieser Rasenfläche ist ein kleiner Vogel mit leuchtend orangerotem Latz sehr geschäftig.
 
Die vier Wetterzeichen dieser Woche:
Gelbe Waldgoldsterne,
umherstreifende braune Frösche,
Mückentänze
und Nieselregen.
 
Das Rotkehlchen mit dem Latz — denn darum handelt es sich — schnappt sich ein von der Frühlingsmilde aufgescheuchtes Insekt hier und ein anderes dort unter dem Moosbüschel. Mit einem angenehm mit leckeren kleinen Beinchen gefüllten Magen hüpft es auf einen höheren Zweig im Busch und gibt eine melodiöse Folge von Tönen von sich — in diesem Lied gibt es perlende Roller, geflötete Frühlingssehnsüchte und innigen Wohlklang — es ist Frühling! Die Amsel wischt sich den Schnabel nach einem Schneckenbraten sauber, nach dem Festmahl liegt ein ganzer Haufen von deren Häuschen auf der Festtafel herum . . . und sie schimpft verärgert, aber ihr goldgelber Augenring scheint die Frühlingssonne zu reflektieren. Im Hintergrund antwortet eine andere Amsel flötend, was wiederum den Schwarzspecht zu einer Antwort veranlasst — er erklärt lautstark etwas über sein Weib Krõõt und seine Angebetete Liia, bisweilen streng: „Krõõt! Krõõt!“ rufend und dann verlangend „Liia! Liia!“ Plötzlich verstummt die Folge . . . ein klägliches Hundewinseln ertönt.
 
Am Rande der Sintflut, im Wald, sucht eine Rötelmaus nach Futter
 
Erste Schritte
Ich laufe den Hügelabhang hinunter; auf dem entfernten Grund des Nachbarn scheint etwas sich zu bewegen. Vielleicht gab es eine Auseinandersetzung mit dem Hund, denke ich, und kehre nach Hause zurück. Aber über dem hoch wasserführenden Bach höre ich Wimmern aus dem Kanalrohr: „Glucks!“. Ein kleiner Welpe von Teddybärgröße zappelt im Wasser. Ich ergreife den Welpen und bringe ihn schnell ins Haus. Der Welpe, in eine Decke gewickelt, wird schnell wieder warm und unsere Bestürzung wächst: von woher ist der Welpe in den Wald gekommen? Besonders hungrig sah er nicht aus, aber um sicher zu gehen, teilen wir unsere Milch mit ihm. Aotäht gibt dem Welpen schnell einen Namen — Tupsu. Wir wagen es nicht, den halb obdachlosen Welpen zu behalten, obwohl wir es gern täten. Auf die telefonische Nachfrage beim Nachbarn hören wir, dass am Morgen eine Bernardiner-Mutter in einem nahegelegenen Bauernhof ihre vier Welpen ins Schlepptau genommen habe und in den Wald gelaufen sei, weil es am nächsten Morgen die Trennung gegeben hätte — die Bauersfrau hatte beschlossen, auf den Markt zu gehen und die Welpen fortzugeben . . . am Abend erfuhren wir, dass von den vier kleinen Wanderern nur der eineinhalb Monate alte Tupsu auf dieser Seite des Daseins geblieben war...
 
Grauerlenblüte
 
Beschleunigtes Erwachen
Aber der Tag im wunderbaren Kütioru beschenkt uns mit unendlich schönen Augenblicken. Das Leberblümchenmeer ist endlos, das Lungenkraut bereits fingerlang. Die Erlen lassen ihre Pollen fliegen und um die Weidenkätzchen tummeln sich die Hummeln. Ohne Gazeabdeckung ist der Kübel für den Birkensaft voller Mückenbeine, der Saft fließt plätschernd. Der Giersch unter den Sträuchern entfaltet seine hahnenfüßigen Blätter, die Narzissen tragen Knospen. Der Rhabarber an der Südhauswand entfaltet augenfällig aus seiner roten Knospe sein erstes grünes Blatt. Man spürt den Geschmack von Schnittlauch im Mund. Die Erde selbst ist, wenn man sie mit der Hand anfühlt, so bereit, wie sie nur sein kann, wenn es nur tagsüber genug Wärme gibt. Bleibt nur das Mitgefühl für die Menschen Nordestlands, die verzweifelt Schnee beiseite schaufeln  – in Võrumaa gibt es den jetzt nur noch im Wald und auf nordseitigen Hängen. Kaja Kübar berichtet aus Pärnumaa, dass der Waldgoldstern blüht und die Traubenkirschenknospen bereits grün werden. Wechselblättriges Milzkraut gibt es noch nicht, aber Erast Parmato lässt uns wissen, dass es in diesem Jahr besonders viele scharlachrote Kelchbecherling-Pilze gibt.
 
Emajõgi-Hochwasser
Viele Erlen-Brüche stehen jetzt unter Wasser, während in Pärnumaa das Wasser langsam beginnt zurückzugehen, zeigt der Emajõgi-Fluss seine Kraft. In Tartu sind der Anne-Kanal und der Emajõgi bereits fast eins geworden. Am Anne-Ufer schwimmt genüsslich ein schöner Höckerschwan, mit den Beinen im Wasser planschend. Überall sind jetzt Unmengen Gänse und Schwäne. Die Gänse wuseln ständig hierhin und dorthin und versuchen alles zu verschlingen, was der Bauer im Winter ausgesät hat. In Kütioru hörte ich den ersten Schwarm Kanadagänse vorbeifliegen. Die Balz der Birkhühner in den Feldern und Mooren ist in vollem Gang. Die Brandseeschwalben, die Grünschenkel und  . . . die Dreizehenmöwe erreichten die Vogelstation von Sõrve.
 
Überschwemmte Mustjõe Uferwiesen
 
Blumengeschichte: Küchenschellen
In alten Zeiten, als der Bär Hafer kaute, hatte er keine Ahnung, dass der Bauer und seine Leute ihm im Dickicht auflauerten. Als der Bär in seinem Verhau war, griffen ihn die Wegelagerer mit scharfgespitzten Waffen an. Der Bär floh und lief so schnell, dass er seine männlichen „Schellen“ verlor. Er kam mit dem Leben davon. Aber aus den verlorenen „Schellen “ wuchsen besondere Blumen, die heute auf Estnisch karukellad, Bärenschellen, heißen.
 
Zitat:
Wenn das Wiesenschaumkraut vor dem St. Georgstag blüht, wird der Sommer nass.
 
Übersetzung: Liis und Leonia


 

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