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Seidenschwänze in der Speisekammer des Generals

Text und Fotos Rein Kuresooanimalcity.eu/kuresoo/
Übersetzung ins Englische: Liis
Übersetzung vom Englischen ins Deutsche: Felis silvestris
 
Der russische Züchter Ivan Michurin gehört zweifellos zu den Vorgängern der heutigen GVO-Züchter. Bereits während seiner Lebzeiten hielten religiöse Fundamentalisten die von Wissenschaftlern und Züchtern geschaffenen, artübergreifenden Hybriden für Frankensteins Monster. Eine von vielen von Michurin geschaffenen Kreuzungen war eine Kreuzung zwischen Eberesche und Rotem Weißdorn (Crataegus sanguinea), ein Ebereschen-Weißdorn-Hybrid, der selbst jetzt in vielen estnischen Gärten wächst. Die Beeren dieser "Granatnaya"-Varietät sind größer, süßer und saftiger als gewöhnliche Vogelbeeren und diejenigen, die mit Küchendunst vertraut sind, können kulinarische Wunder aus ihnen herauskitzeln.
 
Die Schöpfungen von Gott und dem Sohn der Provinz Rjasan - Eberesche und Bastard-Eberesche - wachsen im Garten meines Nachbarn Seite an Seite. Ohne mich von meinem Schreibtisch zu erheben, kann ich bestätigen, dass die Vögel das Produkt des göttlichen bärtigen Schöpfers den sündigen Früchten des Umgestalters der Natur vorziehen. Offensichtlich fallen die orange-roten Vogelbeerenbüschel besser ins Auge der Vögel, als die dunkelroten Beeren des Ebereschen-Weißdorn-Hybriden. Gewöhnlich sind die Vogelbeeren bereits im Herbst aufgegessen, Vögel gehen nicht bevorzugt an die Bastardbeeren. Obwohl sie die Beeren als Ganzes schlucken, scheint der Geschmackssinn offenbar eine Rolle bei der Reihenfolge der Wahl zu spielen - wie ist anders zu erklären, dass die Beeren der Apfelbeere (Aronia sp.) bereits weg sind, bevor ich mit meinem Korb zu den Büschen komme. Zuverlässige Aussagen über die geschmacklichen Vorlieben von Vögeln zu machen ist allerdings ohne Experimente durchzuführen, schwierig. Der Geschmackssinn der Vögel ist eine vergleichsweise wenig untersuchte Disziplin. Erst 1974 wandte sich zum Beispiel Herman Berkhoudt von der Universität Leiden mit der Entdeckung an die wissenschaftliche Gemeinschaft, dass Stockenten Geschmacksknospen sowohl an der Schnabelspitze und in der Kehle haben, als auch auf der Zunge. Bis dahin wurden die Knospen von der wissenschaftlichen Welt (zumindest der englischsprachigen) gesucht, wurden aber nur auf der Zunge der Vögel gefunden.
 
Die Vogelbeerenernte im letzten Herbst war reichlich. Nach altem Volksglauben bedeutet dies, dass Krieg ausbrechen wird. Hätten die Menschen von einst Bingo gespielt, hätten sie nicht, beleuchtet von Kienspänen, Kaffbrot aus Getreidespelzen essen müssen. Der Krieg blieb nicht aus: im Wein-Monat (Oktober) kamen Regimenter von geflügelten Freunden an und auch einige Schlachten wurden geschlagen. Während des gesamten Herbsts und dem warmen Jahresende raschelten Wacholderdrosseln in den Ebereschen, erst der eisige Januar drückte die meisten Drosseln Richtung Süden. Einige einzelne, tapfere Vögel blieben dem Winter zu trotzen, aber das Gesellschaftsleben kam zu einem jähen Ende. Jede verbleibende Drossel hatte jetzt ihre persönlichen Ressourcen, die sie eifersüchtig gegen Artgenossen wie auch geflügelte Herumtreiber bewachte. Eine Wacholderdrossel mit militärischer Haltung übernahm dauerhaft die Aufsicht über den Ebereschen-Weißdorn-Bastard, der von Beerenbüscheln strotzte. Ihre Routine beständig ausgeführter Kommandobefehle wie stramm stehen und Augen links, begleitet von Schwanz senken, finsterem Gesichtsausdruck und Reibeisenstimme, erinnerte an General Ants Laaneots. Der General, der meines Nachbars Ebereschen besetzte, wehrte unentwegt zwei Wacholderdrosseln, die in der Nachbarschaft überwinterten, ab, diese wiederum mussten Land und Bäume mit Komposthaufen und verrottenden Äpfeln untereinander aufteilen. Eine der beiden hatte einen nicht ganz bündigen Schnabel, ich nannte sie Schiefschnabel, Viltulõug [wörtlich: Schiefkinn]. Die Amseln, die auch in der Nähe beschäftigt waren, bekamen eine solche Tracht Prügel von Laaneots, so dass sie irgendwo hinter den fernen blauen Wäldern verschwanden.
 
 
An einem kalten Wintertag kam fröhliches klingeln vom Ebereschenbaum und bremste das barsche Bellen der Drossel. Die Speisekammer des Generals wurde von Fremden aus dem hohen Norden besetzt - Seidenschwänzen, die sogar ihr Zigeunerlager hier aufschlugen. Die zigeunerhafte und bunte Truppe scherte sich keinen Deut um Eigentumsgesetze, nachhaltige Entwicklung oder Weltordnung im Allgemeinen. Eine Realität die sie jedoch nicht ignorieren konnten, war die unermüdliche Abschreckungsfähigkeit von Laaneots. Von morgens bis abends verfolgte Ants die Seidenschwänze in den Ebereschenkronen. Für die Seidenschwänze schien kurze Flucht eine ziemlich spannende Freizeitbeschäftigung zu sein, retteten sie doch die Freßorgien davor, zu langweilig zu werden. Während sich zwei oder drei Seidenschwänze in der Eberesche bewegten, konnten die übrigen ihr Mahl in Ruhe genießen. Für Gen. Laaneots allerdings war dies ein vollwertiger Krieg, der noch dazu bei 15 Grad Kälte ausgefochten werden musste. Die hundert Gramm Körpergewicht der Wacholderdrossel gegen die sechzig der Seidenschwänze, ihr schärferer Schnabel und aggressivere Natur waren völlig überzeugende Argumente für jeden einzelnen Seidenschwanz, nur die Seidenschwänze waren fast fünfzig. Bereits zu Mittag war der General sichtlich müde - er rang abwechselnd nach Luft und zitterte. Dann, wenn die Seidenschwänze eine kleine Pause beim Hinunterschlingen machten, so dass die Beeren im Bauch auftauen konnten und die Körpertemperatur zurück auf normal steigen konnte, versuchte Ants zu retten, was zu retten war und schluckte ganze Handvoll eisiger Beeren, bis sie nicht mehr länger durch seinen gefrorenen Hals gingen. Und das Karussell startete von vorn.  
 
 
Die Seidenschwänze hatten ebenfalls Schwierigkeiten, die großen gefrorenen Beeren zu schlucken. Wie die meisten Vögel haben Seidenschwänze zwei nach hinten gerichtete Widerhaken auf ihrer Zunge. Mit diesen bekommen sie besseren Halt an einem Bissen und können ihn zum Hals dirigieren. Wenn die Zunge steif vor Kälte wird, fängt das Futter im Schnabel an herumzurollen und geht nicht mehr nach unten. Die Seidenschwänze versuchten durch in die Luft werfen und wieder auffangen die Beeren in eine bessere Position zu bringen. Aber das Mundwerk, ungeschickt durch die Kälte, war nicht mehr so flink beim Jonglieren - ein großer Teil der aus den Büscheln gegriffenen Beeren, fielen einfach auf den Boden. 
 
 
 
 
Während die verfeindeten Parteien mit ihren Scharmützeln beschäftigt waren, trat Schiefschnabel in die Schlacht ein. Aber er attackierte nicht die Seidenschwänze; sein Augenmerk war auf seinen Erzrivalen - General Laaneots - gerichtet. Schiefschnabel abzuwehren war zunächst kein Problem für Ants, aber seine Vormachtstellung schwand täglich und stündlich dahin.
 
Am vierten Tag, als die Sonne (dieselbe, die ehemals die Schlachtszene von Austerlitz beleuchtete) durch die Morgenwolken brach und Licht auf das Schlachtfeld warf, war der Schnee blutrot vom Vogelkot. An den roten Flecken waren Meisen beschäftigt, in den Vogelhäufchen der Seidenschwänze nach Samen zu suchen. Die Seidenschwänze waren weg und so war auch General Laaneots; nur Schiefschnabel hockte triumphierend auf dem Ebereschen-Weißdorn-Hybriden, exerzierte abwechselnd Habachtstellung und links-rechts Kopfdrehungen.