Garten-Werklers Jahr. November

Illustration und Geschichte: Tiit Kändler
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
November: Finsternis in Quanten schneiden (Messer in einer Hand, Rosen in der anderen) 
 
November ist ein rosiger Monat für den Garten-Werkler. Er beginnt mit den Rosen, diesen ewig eigensinnigen Blumen, die immer noch versuchen, einige Blütenknospen zum Aufgehen zu bringen. Gerade so als würden sie veranlasst, sich vor einen vorbei donnernden Zug zu werfen, oder in die Arme der in Kürze eintreffenden Kältewelle.
Interessant – warum sagt man Kältewelle, sinniert der Garten-Werkler. Der Rest der Welt um uns herum und in uns ist aus eigenständigen Einheiten zusammengesetzt. Aber genauso, wie Licht eine Welle unter einem Aspekt und eine kleine Verdichtung oder Quantum unter dem anderen ist, so ist Kälte ebenfalls sowohl Welle als auch Teilchen. Ja, und der November wird zweifellos diese Erkenntnis belegen, die zu einer grundlegenden Umwälzung der Wissenschaft führen wird. Kälte kommt tatsächlich geballt. Kälte ist messbar, ebenso wie Energie und Licht, frohlockt des Garten-Werklers Geist.
Die Wolken an der Küste vor Sonnenuntergang in den ersten Dezembertagen sind eine Landschaft für sich. Rot, orange gegen den schwarzblauen Hintergrund des Himmels, wie riesige kosmische Gaswolken. Vermutlich sind dies die Modelle, von denen die atemberaubenden Farben der Gaswolken in den Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops stammen. in solchen Wolken wimmelt sicherlich eigenes Leben, es gibt sicherlich dort einen Garten und einen Garten-Werkler, denkt sich der Garten-Werkler auf der Erde; er ist auf eine Sanddüne geklettert, um den Wolken näher zu kommen. Und dann, gerade bevor das Purpur der Wolken verschwindet und in die düstere Novembernacht übergeht, läuft ein Pferd lautlos über eine ferne Sanddüne, mit einem Mädchen auf dem Rücken. Lautlos, lautlos, beleuchtet von Lichtquanten. Gerade wie in einem Gemälde Magrittes – und wer sagt denn, Magritte sei kein Realist gewesen.
Und dann schreitet der November voran und die Abenddämmerung kommt schon bevor der Morgen graut. Die Dunkelheit kommt in Massen, sie könnte sogar mit einem Messer in Stückchen geschnitten werden. Die Dunkelheit verschluckt alle Gedanken wie ein Schwamm, so dass unser Garten-Werkler keine anderen Gedanken fassen kann, als Holz zu zerlegen. Aber warum die Eile – wenn die Kältemassen noch nicht angekommen sind? Birke klingt unter dem Beil wie eine Glocke, Esche knackt, die Kiefer gibt in spielerischer Zurückhaltung nach, die Fichte murrt schlecht gelaunt. Nur die Eberesche und die Vogelkirsche widerstehen und benötigen einen Keil und einen geeigneten Hammer anstelle der Axt. Der Keil – ach ja, das erste technische Gerät, das der Mensch erfand und benutzte. Und es mag gerade im November gewesen sein, dass er das erste Steinbeil fertigte, um dann zur nächsten bahnbrechenden Idee überzugehen: dass nun das Feuer machen gelernt werden sollte.
Der Garten-Werkler streift den kleinen Bach entlang. Jetzt im November kann man den Grund wieder sehen; im Sommer war das träge fließende Wasser voller Ablagerungen und Köcherfliegenlarven. Irgendwo ist Wasser abgelassen worden, obwohl es nicht geregnet hat. Und das Bächlein zeigt seinen schönen Sandboden, der nicht die gewöhnliche Sandfarbe hat, sondern bräunlich-rot, ähnlich wie Rembrandts Rot, dass der Maler im Studio im dritten Stock seines Amsterdamer Hauses für seine Gemälde anmischte.
Rötlichbraun ist genau die Farbe des Novemberanfangs. Die Farbe leuchtet von den Kiefernnadeln, die in den Sand gefallen sind, die Heide hat diese Farbe. Ja, es gibt viel auf der Heide zu sehen. Nun kann sie mit ihren Farben beeindrucken, die im Frühjahr und Sommer von Blumen, Blättern und allen Arten von Lebewesen verdeckt waren. Die rötliche Heide blüht über und über, das dunkle Rot verkrüppelter Kiefern – und das glänzende und beruhigende Grün des Mooses. Es gibt nichts Vergleichbares. Obwohl der Garten-Werkler denkt, dass er weiß, es seien eigentlich Flechten, kümmert es ihn nicht. Menschen haben das Recht sogar das nicht zu wissen, was sie wissen, und daher sollten erfreuliche Dinge auch erfreuliche Namen haben, keine hässlichen. Moos, Moos, Moos — grün, grün, grün. Wie ein kleines Farbgedicht.
Regen tröpfelt, im November weiß man nicht sicher, ob er von oben oder von unten kommt. Der Nieselregen hat die See mit der Nicht-See verschmolzen. Die Möwen sind darin verschwunden. Nur ein paar einsame Krähen kreisen am Himmel und singen ihr krächzendes Lied. Krah, krah – und die Weidenkätzchen wurden aus ihren Hüllen wie an der Nase herausgezogen. Hinter den Weiden wartet der Schneebeerenstrauch vor dem Felsen, so dass der Garten-Werkler ein paar kleine Knaller mit den schneeweißen Beeren loslassen kann.
Und nun ist der Schnee da. Der erste Schnee weist aber selbst dem klügsten Deuter nicht, ob es mehr davon geben wird oder ob er nur irgendwo im Untergrund verschwindet.
Aber er wird kommen, er wird ganz sicher kommen, der erste Schnee bleibt nicht zwischen Himmel und Erde hängen.  Das kann nicht sein, er reicht bis zum Himmel und seine ganze Familie kommt herunter von dort, mit allen Freunden und den Nachbarn obendrein.
Die Spinne und sogar die Fliege, die gestern zu bewundern waren, sind irgendwohin verschwunden. Die Ringelblume, die tapfer auch gestern noch geblüht hatte, ist unter der ersten kleinen Schneeladung verschwunden. Aber der Garten hält sich, auch wenn zehnmal soviel Schnee herunterkäme. Der Garten ist durchscheinend geworden, schneebedeckt. Der Garten-Werkler hat keine Sorgen mehr um seine Pflanzen. Die Rosen wurden natürlich nicht abgedeckt – aber wo findet man heutzutage ein Landhaus, von dem man mit Seilen zusammengebundene Fichtenladungen abholen kann. Aber vermutlich macht es nichts, der erste Schnee, der fällt und fällt, mag es stattdessen erledigen. Oder er tut es doch nicht. Wer lebt, wird es sehen. Der Garten-Werkler ist einfallsreich, er hat einen Grund für seine Faulheit. Als er im letzten Winter die Rosen gegen die Kälte abdeckte, hatten im Frühjahr nur die drei zähesten Büsche überlebt. Und sogar die Wissenschaftler haben begonnen, über im Leben erworbene genetisch vererbbare Charaktereigenschaften zu sprechen, ganz wie Vater Mitshurin und Sohn Lysenko zu ihrer Zeit. Daher sollten sich die Rosen das in ihre Köpfe — oder in ihre Knospen — schreiben und endlich winterhart werden.
Der Garten-Werkler hat herrliche Tage. Er kann Schnee schaufeln und und kann seinen Garten gestalten ohne Mühe. Die Schneewälle benötigen kein Bewässern, Schneewehen müssen nicht gejätet werden und Schneehaufen müssen nicht gegen Krankheiten gespritzt werden.
 
Oh nein – plötzlich erinnert er sich, dass das Vogelfutterhäuschen nicht aufgestellt und mit Futter versehen wurde. Nun, das muss getan werden. Ein Tag, zwei – keiner kommt. Aber dann, eines Morgens, wenn die Sonne im November aufgeht in einer Gott weiß welcher Richtung – wenn es denn überhaupt noch Richtungen gibt – ist der erste Kleiber da. Und dann der zweite. Und dann eine Kohlmeise, und eine weitere. Woher konnten sie wissen, wie haben sie es erraten, da sie weder Internet noch Briefe von der estnischen Post bekommen, wundert sich der Garten-Werkler. Wenn man es für sich selbst herausfinden könnte, wo es Essplätze mit freier Tafel gibt . . .  Und er geht den Karask, das Gersten-Buttergebäck, in den Ofen zu schieben. Als eine Verehrung für den rosigen, den Schneerosen-rosigen Garten.


 

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