Text und Fotos Kristel Vilbaste
Übersetzung ins Englische Liis
Vom Englischen ins Deutsche Leonia
Zum Tod gekennzeichnete Bäume
Dienstagmorgen war ein Tag wie jeder andere. Man kann immer noch barfuß übers Gras zum Briefkasten gehen, um eine neue Postimees-Tageszeitung zum Morgenkaffee zu haben. Die Kälte ist einem noch nicht ins Mark gekrochen auf dem Rückweg von diesem Gang.
Aber Kälte drank mir ins Herz, als ich die Zeitung las. Der Bericht, dass auf dem Toomemägi-Hang bei Pirogov heute die Fällung von Bäumen beginnt, die für Menschen gefährlich sind.
Warum erfasste mich eine solche eisige Kälte? Für mich war es immer ein heiliger Ort gewesen. Hier habe ich für die Examen an der Universität gepaukt, hier in der Nähe wurden alle meine Kinder geboren, hier bin ich mit meinen Kindern später spazieren gegangen. Von der gleichen Hügelkuppe gibt es ein Foto meines Vaters aus seiner Kindheit in unserem Familienalbum. Hierhin ging ich, dem Hissen der blau-schwarz-weißen Fahne zuzusehen, hierhin bringe ich immer meine ausländischen Freunde, eine von Estlands heiligsten Stätten zu sehen. Hier beginnt der Struve-Meridianbogen; seine anderen Fixpunkte habe ich besucht bis hin zum Eismeer.
Für mich ist dieser Hain ein heiliger Berg, wo man in der Stille der Bäume nachdenken und neue Energie finden kann.
Natürlich ist dieser Ort entwertet worden, als Treffpunkt der Punks und Säufer. Aber ist es nicht wert zu erwägen, warum diese vom Alltagsleben unabhängigen Menschen diesen Ort lieben?
Das Reden über die Säuberung der Toomemägi-Hänge begann, als das neue Glashaus in der Altstadt emporwuchs. Es ist selbst heute noch ziemlich schwierig zu verstehen, warum eine solche neue Struktur gerade neben dem Rathaus erlaubt werden konnte. Aber unmittelbar danach kamen die Geschichten auf, dass die Bäume des Toomemägi Leute bedrohten.
Der Artikel erklärt, dass 51 Bäume gefällt werden müssen, weil sie mit Pilzen infiziert oder schwach im Boden verankert seien. Dies wird in der Regel als eine Gefahr für Passanten angesehen. Und genau das erstaunt mich. Soweit ich die Gegend weitestgehend kenne, ist dort nicht einmal ein kleiner Pfad, die Bäume halten einfach nur den Boden an dem ziemlich steilen Hang. Es ist ein Wunder, dass diese Bäume überhaupt dort wachsen können und den Eingang des Rathauses der Stadtväter bei Starkregen vor abfließendem Schlamm schützen.
Es wird von diesem Ort auch gesagt, dass hier der berühmte Taara Padu war – eine der drei heiligsten Stätten in Estland, zusammen mit dem Ebavere-Berg und dem Võhandu-Fluss. Jedenfalls hat dies Matthias Johann Eisen behauptet. Sein Verdienst war es, das Wissen zu sammeln, dass nicht in den früheren baltendeutschen Aufzeichnungen gesammelt worden war. Und weil die Zerstörung der heiligen Haine vor über 700 Jahren keine der von der Alphabetisierung durch die Eroberer gekrönten Geschichten war, fehlen andere historische Berichte über diesen Hain.
Doch die Forscher streiten immer noch darüber, was der älteste Name Tartus, Tarbatu, bedeutet haben mag. Nach Meinung einiger war hier der Taara Padu, ein heiliger Hain, in dem ein großer Fels oder ein Steintisch oder ein Opferfelsen gelegen war. Aber da der vorhandene Opferstein erst 1927 auf den Toomemägi gebracht worden war, ist die Geschichte um den Hain verwirrend.
Es wird auch in den rekonstruierten Vanemuise-Erzählungen angenommen, dass der durch Gesang auf dem Toomemägi gepflanzte Eichenwald von unseren Liedervätern über die Väinamöinen-Sagen aus Karelien nach Estland gebracht wurde. Und solange die Linguisten debattieren, hat der Toomemägi oder Taara Padu keinen rechtlichen Schutz als heiliger Hain. Es ist, als ob Tartu niemals einen Hain hatte.
Doch die Landschaftsform des sogenannten Pirogov ist faszinierend. Es ist fast der höchste Punkt in Tartus Umgebung. So wichtig, dass hier anstelle der alten estnischen Burg eine Bischofsburg gebaut wurde. Und wenn wir uns die anderen estnischen Festungen ansehen, dann gab es dort auch einen heiligen Hain in der Nähe. Die Leute der Vorzeit waren schlicht praktisch. Man kann auch sehen, dass wahrscheinlich ein ziemlich hoher nackter roter Sandsteinfelsen, eine hohe senkrechte Wand am Ufer des Emajõgi in Tartu war und überall im südlichen Estland. Die vielleicht bekannteste dieser Wände ist Taevaskoda mit seinen Höhlen und Quellen. Aber Bilder von Merioon oder Paeläte oder Vooremäe Hennu Raudläte oder Sõjatare sieht man auch sofort vor sich. [Red. Anml. d. Übers.: Merioon, Paeläte, Vooremäe Hennu Raudläte und Sõjatare sind Höhlen in Sandsteinwänden in Estland, in denen Quellen entspringen]
Ist es nicht möglich, dass hier so eine Quellhöhle (pagukoobas) war? Die nächste Quelle entspringt bekanntermaßen unmittelbar am früheren Chemiegebäude-Keller. Oder wie entstand die Idee, einen Pulverkeller dort anzulegen (Püssirohukelder)? Und woher kamen die Eichenstämme für den Bau der Burg und der Stadt?
Auf jeden Fall ist hier sehr wahrscheinlich eine heilige und sehr wichtige Stätte. Niemand kann das leugnen. Und in einem heiligen Hain fällt man nicht einfach so die Bäume. Dafür muss es einen Grund geben. Eine Hoffnung, die Gesundheit durch die gepflückten Blätter und Zweige oder Rinde zu verbessern. Oder man benötigt ein heiliges Feuer. Oder man sichert den Zugang zu einem heiligen Ort. Ansonsten nicht.
Tartu ist berühmt für sein Grün, aber in den letzten Jahren hat Estland immer mehr frisch-examinierte Baumspezialisten bekommen, die benötigen auch Arbeit.
Merkwürdig daran ist, dass das einzige Unternehmen, dass am Fällen der Bäume von Taara Padu beteiltigt war, aus Tallinn ist. Sie haben auch an der Baumfällung am Ebavere gearbeitet.
Als ich den Direktor des Unternehmens fragte, warum er einen solchen Auftrag angenommen habe, sagte er, dass dies zunächst von den Vermessungsexperten und dem Kunden erfragt werden sollte. „Der Geldbetrag, der für einen solchen Auftrag angeboten wird, liegt bei immerhin 80.000 Euro. Warum soll ich auf dieses Geld verzichten?”
Es fällt auf, dass obwohl das Fällen noch am selben Tag beginnen sollte, man die Hebebühne noch den ganzen Tag über stillstehen sah. Die Bäume ließen sie einfach nicht hinein, und als letztlich die Technik zum Arbeitseinsatz parat war, war der offizielle Arbeitstag zu Ende. Aber die Arbeiter ziehen eiserne Masken am Kopf an und wie Ritter in Rüstungen hängen sie auf ihrem langhalsigen Eisenpferd.
Die Ahorne im Gehölz rauschten düster in diesem höllischen Getöse, als ob sie sagen wollten, wen haben wir gestört, unsere Äste erreichen nicht einmal die Wege, nur die Äste eines Baumes reichen bis zu den Hotelfenstern … Was wird im nächsten Frühjahr bei Hochwasser geschehen, wenn unsere Wurzeln nicht mehr den Boden festhalten. Und jene wenigen unserer Geschwister, die kein rotes oder blaues Todeszeichen tragen, wie werden sie es mit ihren breiten Blättern schaffen, Sturmböen zu überleben, wenn wir einander nicht mehr die Hände reichen können.
Ich fragte einen Arbeiter, bevor er seine Säge anwarf, wie es sich anfühlt, Bäume an heiligen Stätten zu fällen; er antwortete, dass er immer die Bäume um Erlaubnis frage, sie jedoch nie antworteten. Wenn ich diesen Ritter in seiner modernen Ausrüstung mit seinen Ohrenschützern dort an den Bäumen sehe, verstehe ich, dass er sie einfach nicht hören kann.