Per Zug nach Riga

Autorid

Text Kristel Vilbaste
Foto from Vikipeedia
Übersetzung ins Englische Liis

vom Englischen ins Deutsche Leonia

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Textkörper

Das Bahnhofsgebäude von Tartu 2014

Als ich sieben Jahre lang am Ufer des Peipussees lebte, wurde mir Bahnfahren fremd. Es gab einfach keinen Zug nach Mustvee. Von Zeit zu Zeit sammelten wir am alten Bahndamm Birkenreiser und pflückten wilde Erdbeeren.

Die einzigen Bahnfahrten machte ich während dieser Phase in Europa, meist vom Flughafen in die Stadt. Einmal, ja, fuhr ich eine längere Strecke mit dem Zug, von Malaga an der Spanischen Sonnenküste nach Cordoba. Zugreisen waren langsamer als auf dem Luftweg, mühevoller und tatsächlich wohl teurer.

Aber in diesem Jahr machte ich mehr Besuche in Tallinn und es war recht angenehm, mit dem Morgenzug von Tartu nach Tallinn zu zuckeln. Schläfrig an einem Lenkrad zu sitzen und bei morgendlicher Glätte wäre es auch ziemlich riskant gewesen. Mit dem Bus zu fahren ist ziemlich hart, für zweieinhalb Stunden mit den Knien zwischen zwei Sitzen eingeklemmt. Außerdem ist der Bus teuer.

Am vergangenen Donnerstag jedoch geschah es, dass es mir für den Rückweg von Tallinn nicht gelang, per Handy ein Ticket für den Zug zu bekommen, offensichtlich gab es in der virtuellen Welt ein Softwareproblem.

Der Bus fuhr auch 45 Minuten früher ab und so kaufte ich eine der letzten teuren Busfahrkarten für mich. Als ich mich hinter dem VIP-Vorhang auf meinen Sitz setzte, entdeckte ich, dass ich meine Kopfhörer zu Hause vergessen hatte. Normalerweise höre ich während der Hälfte der Fahrtzeit einige interessante Vorträge der TV-Seite der Universität Tartu über Internet. Es gibt zum Beispiel sehr interessante Vorträge über heilige Stätten in der Natur.

Vielleicht werde ich dann mehr Zeit haben, zu den Quellen zu wandern, dachte ich, schließlich liegen an der Straße Tallinn-Tartu alte heilige Quellen aufgereiht: der Saula Blautopf, der Tuhala Hexenbrunnen, die Sepa-Quelle, die Prandi-Quellen.

Zwei geschleckt aussehende Männer saßen neben mir und begannen mit großem Vergnügen über vor kurzem verbrachte Urlaube zu reden, Golfplätze bei Malaga, Workouts. Trotz der eindringlichen Aufforderung des Busfahrers hatten sie sich nicht angeschnallt. Nun, was kann man mit Geschäftsleuten anfangen. Dann drehte sich das Gespräch um die Millionen, die benötigt würden, etwas zu bauen. Ich versuchte angestrengt einzuschlafen, mir wurde von Kindheit an beigebracht, dass es nicht gut ist, der Unterhaltung von Fremden zu lauschen.

Schlaf im Bus ist, was er ist, zeitweise war ich in der Welt des Schlafs, aber plötzlich hörte ich vom Platz neben mir, dass es einfach wäre, die Geschwindigkeit auf der Tartu-Tallinn-Strecke auf 160 Stundenkilometer zu erhöhen. Dafür würde man nur einige zehn Millionen hier und da benötigen. In Tallinn gebe es auch einige Probleme mit Bahnstationen, aber darüber wurde ein Bericht per Telefon von jemand anderem abgefragt. Das Hauptproblem so sagte man, wäre, dass weder Lettland noch Litauen an einer Zugverbindung nach Estland oder nach Europa interessiert seien. Jedes Land kümmere sich um eigene Interessen. Die Männer hatten eine angeregte Diskussion darüber, dass niemand wirklich per Zug nach Europa reisen wolle, nur eine Verbindung zum Flughafen Riga seit tatsächlich erforderlich.

Wenn man in einer engen Metallkiste wie einem Bus steckt und freiwillig oder unfreiwillig dieses Gespräch hört, interessiert es einen, wer so redet und warum. Um so mehr, als ich mir selbst immer wieder vorwerfe, dass ich mir als Journalistin die Umwelteinflüsse der baltischen Trasse Rail Baltica*) und den Umstand, dass die Zuglinie über heilige Quellen gebaut wird, nicht vorgenommen habe. Vielleicht war das der Vorwurf der Natur an mich.

Aber die heutige virtuelle Welt ist wirkmächtig und Googeln zeigte schnell, dass der Eisenbahndirektor und der Vorsitzende von Elron**) beschlossen hatten, gemeinsam mit dem Bus nach Tartu zu fahren, um den Ratsmitgliedern von Tartu zu berichten, ob eine Zugverbindung über Tartu nach Riga machbar wäre. Mit dem Bus! Und ein Zug wäre eine dreiviertel Stunde später gefahren. Sogar damit wäre es möglich gewesen, rechtzeitig zur Ratssitzung zu erscheinen.

Ich werde die Geschichten aus den Interna der Eisenbahnflure der Macht verlassen, die großzügig für alle umliegenden Plätze hörbar erzählt wurden, aber es ärgert mich, dass Journalisten als böse Geister angesehen werden, die neugierig auf alles sind. Zwei Dia-Vorträge wurden teilweise diskutiert, diese würden den Ratsmitgliedern Tartus gezeigt, aber nicht den Journalisten, die ohnehin erst nach der Sitzung eintreffen würden.

Es war interessant festzustellen, wie der gesprächigere Eisenbahner, der neben mir saß, plötzlich zehn Minuten auf eine besonders bunte Tabelle starrte. Was sie zeigte, versuchte ich nicht zu erkennen. Jedenfalls irgendwo in Kärevere, am Emajõgi-Fluss entlang, rief er einen weiteren Angestellten an und bekam unerwartet mitgeteilt, dass es in Lettland bereits möglich ist, von Riga nach Valga mit dem Zug zu fahren, der 120 Stundenkilometer fahren kann. Und auch dass es, wenn man von Tallinn nach Riga über Tartu fährt, kilometermäßig nicht sonderlich weiter ist, als auf dem Weg über Pärnu.

Ich kann nicht leugnen, dass diese Unterhaltung viele Fragen bei mir aufwarf. Und den ständigen Wunsch, den laut redenden Männern zu raten, mit dem Zug zu fahren, wo mithörende Ohren weiter entfernt sind.

Jedenfalls stiegen sie irgendwann aus dem Bus am Rathaus von Tartu und ein paar Stunden später erschien eine traurige Nachricht in der Tartu Postimees-Zeitung, die Überschrift besagte: „Kalte Dusche für Tartus Bürger. Keine Chance von einem Zug nach Riga zu träumen“. Und der Artikel selbst erwähnte: “Wenn die Rail Baltica überhaupt kommt, dann über Pärnu, dass ist allgemein bekannt. Keiner trommelt für die Tartu-Riga-Zuglinie. Darüber wurden die Mitglieder des Stadtrats von Tartu durch zwei Vertreter der staatlichen Eisenbahn informiert – der Direktor für Entwicklung der Estnischen Eisenbahn, Anvar Salomets und der Vorsitzender des Elron-Vorstands (Eesti Liinirongid), Andrus Ossip. /-/ Der Vortrag von Salomets ergab, dass in Lettland die Bahn tatsächlich auch für Fahrten nach Riga mit 120 Stundenkilometern geeignet ist. Leider befasst sich Eesti Raudtee***) nicht mit Passagier-Transport und zu diesem Thema sollte man Elron konsultieren.“ /-/ „Ehrlich gesagt, engagiert sich Elron nicht in dieser Sache,“ antwortete Ossip kurz und knapp in das Mikrofon von Postimees. „Wir haben nicht genug geeignete Züge.“

Zuvor hatte er den Ratsmitgliedern mitgeteilt, dass bei Elron weder Ehrgeiz noch oberste Priorität vorliege, nach Riga zu fahren, denn wenn es nicht genügend Züge gebe, um die Qualität auf estnischen Linien sicherzustellen, wäre es unrealistisch, die lettische Hauptstadt anzufahren.

„Ich bin erstaunt“ sagte Verni Loodmaa von der estnischen Reformpartei, verweisend auf den Umstand, dass eine Geschwindigkeit von 160 km/h in Richtung Tallinn und eine Verbindung nach Riga mit Umstieg in Valga, die seit zwei Jahren im nationalen Entwicklungsplan steht, aus der Agenda verschwunden sind.

So ist das mit den „Karotten“. Aber eine Frage, die mich seit einigen Tagen verfolgt, ist, wenn man die Eisenbahndirektoren noch einmal einlädt, mit dem Bus nach Tartu zu fahren, sie vielleicht plötzlich unterwegs ihre lettischen Kollegen anrufen und fragen, ob sie vielleicht ein paar Züge übrig hätten? Oder einen unternehmungslustigen lettischen Geschäftsmann kontaktieren, der einen lettischen Zug nicht nur von Riga nach Valga, sondern über Tartu nach Tallinn schicken könnte? Das würde eine Riga Balsam Express-Verbindung möglich machen, anstelle der Rail Baltica. Es ist zu hoffen, dass die estnische Regierung die Verbrauchssteuer auf Alkohol in naher Zukunft erhöhen wird.

*) Rail Baltica ist eine geplante Eisenbahnverbindung, die von Warschau über Kaunas und Riga nach Tallinn (mit Anschluss nach Helsinki per Fähre oder Tunnel) führen soll (Wikipedia „Rail Baltica“, 27.11.16)

**) Eesti Liinirongid AS (ELRON) ist ein Unternehmen des Öffentlichen Verkehrs, verantwortlich dafür, Passagiertransport per Zug in Estland zu organisieren (Homepage Elron 27.11.16) 

***) Eesti Raudtee Ltd ist eine Gesellschaft, die die Verantwortung für die Eisenbahnverwaltung innehat, sie begleitet die Entwicklung und Belange der Eisenbahninfrastruktur, Überwachung des Verkehrs und der Sicherheit (Homepage Eesti Raudtee 27.11.16)

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