Kornblumenblau

Text Kristel Vilbaste
Foto Arne Ader
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
 
Am Jahrestag der Republik Estland am 24. Februar über unsere Nationalsymbole zu sprechen, ist passend: Kalkstein-Felsblöcke, robuster Wacholder, Rauchschwalben … und Kornblumen.
 
Kornblumenblau hat mich seit Jahren bezaubert. Vielleicht weil ich mich erinnere, in meiner Kindheit gemeinsam mit meiner Großmutter Herbariumsseiten präpariert zu haben. Das Kornblumenblau zu erhalten war der schwierigste Teil beim Blumentrocken. Aber Großmutters Arbeit trug Früchte und das Blau hat bis heute überdauert.
 
Bis heute habe ich die Aktionen am Ende der 1960er Jahre nicht mit der Kornblume als unserer Nationalblume verknüpft. Ja, seit 1969 ist die Kornblume die Nationalblume von Estland. Sie wurde mit einer öffentlichen Meinungsumfrage von der estnischen Naturschutz-Gesellschaft zur Nationalblume gewählt. Auf offizieller nationaler Ebene wurde die Kornblume zusammen mit der Rauchschwalbe 1988 als Nationalsymbol bestätigt.
 
Die Leute, die zu jener Zeit die Wahl veranstalteten, werden sicherlich mehr darüber wissen, warum diese Entscheidung getroffen wurde. Im weiten Raum des Internets fand ich einen wichtigen Umstand. Eine Entscheidung der provisorischen Regierung (Ajutine Valitsus) vom 21. November 1918 besagt, dass „Die Farben der estnischen Nationalflagge blau (kornblumenblau), schwarz und weiß in horizontaler Anordnung sind”.
 
Zu jener Zeit gehörten sowohl hiesige Historiker als auch national gesonnene Menschen zur estnischen Naturschutz-Gesellschaft. Die Wahl der Kornblume wurde höchstwahrscheinlich dadurch befördert, weil ihre Farbe sich in der Nationalflagge fand. Und bei weiterer Erwägung war es dadurch einfacher, seine nationale Haltung in den Umstürzen jener Zeiten durch das sozialistische System dadurch zu demonstrieren, dass man die dritte Nationalfarbe zu einer festlich schwarz-weißen Kleidung durch ein Kornblumenblau im Knopfloch ergänzte. 
 
125. Jahrestag der estnischen Flagge in Otepää
 
Ich erinnere mich der Diskussionen aus den Tagen der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit, ob die Farbe unserer Flagge himmelblau sei oder kornblumenblau. Aber die Ursache der Diskussionen war ein einfacher Umstand. Alle Flaggen, die man zum Flattern herausbrachte, waren himmelblau, sie wurden in ihren Verstecken auf Dachböden oder in geheimen Truhen gefunden – ihr blau war mit der Zeit zu hellblau verblasst.
 
Das erste Blau-schwarz-weiß meines Lebens sah ich nicht als Flagge, sondern als Bänder der estnischen Studenten-Gesellschaft (EÜS) in einer 1974 nach dem Tod meiner Großmutter in ihrer Wohnung gefundenen Holzkiste. Es waren Bänder, die ihrem Schwager, Oberst Jüri Hellat, durch seine Verbindungsbrüder überreicht worden waren, und auf ihnen waren auch die Namen der Geber. Auch diese Bänder waren nicht kornblumenblau, sondern himmelblau.
 
Die erste echte blau-schwarz-weiße Flagge, die ich flattern sah, gab es in meiner Schulzeit, als Aivar Rikas am 24. February 1981 die blau-schwarz-weiße Flagge seines Stiefvaters am Fahnenhalter der Schule von Kilingi-Nõmme befestigte. Man kann nicht sagen, dass das keine Probleme mit sich gebracht habe, aber sogar heute noch erinnere ich mich an den lichten Tag mit dem Blau-schwarz-weiß am etwas kurzen Flaggenmast flatternd – und vielleicht war es der helle Sonnenschein des Tages, der das Blau der Flagge in meinem Gedächtnis heller erscheinen lässt.
 
Die dritte Situation, der ich mich in Verbindung mit dem Blau der Flagge erinnere, war bereits nachdem wir die Unabhängigkeit wiedergewonnen hatten die Gelegenheit, als Arne Aders Großmutter aus der hinteren Ecke eines Schrankes ein Kopftuch mit blau-schwarz-weißem Flaggenmuster herausholte und es um ihr Haar band. Die fast 80-jährige Großmutter straffte sich, während sie dies machte. Aber das Blau dieses Tuches war ebenfalls zu einem blassen Hellblau verblichen.
 
Von da an jedoch ist das Blau-schwarz-weiß mit kornblumenblau in meinem Sinn. Die Flagge, mit der mein Vater ging, um den Radiosender zu verteidigen, und die wir bis heute hier zu Hause haben, ist wirklich kornblumenblau.
 
Als ich die Universität 1988 absolvierte, hatten wir alle unsere Kappen während der Abschlussfeier auf mit einer hellblauen Grundfarbe und mit dem roten, von einem schwarzen bedeckten Band. Die Biologie- und Geologie-Fakultät der Universität Tartu war die erste, die wieder zur Abschlussfeier blau-schwarz-weiße Fahnen am Hauptgebäude der Universität gehisst hatte: geschmückt mit schönen kornblumenblauen Flaggen.
 
Es geschieht bei Kornblumen in einer Vase oder beim Trocknen, die Farben verblassen bald, sogar zu weiß. Und so geschieht es auch mit unserer Nationalflagge. Doch wir behalten ihre Farbe in unserem Herzen und suchen nach Möglichkeiten, sie zu bewahren.
 
 
Mein Großvater Gustav Vilbaste schrieb 1939 in seinem Aufsatz „Taimedega värvimisi Eestis – Pflanzenfärbung in Estland”, dass „kornblumenblaue Blüten in früheren Zeiten zum Färben nicht ungenutzt bleiben konnten, weil die schöne Blütenfarbe den gleichfarbigen Farbstoff erzeugte.”
 
Die Leute von Kullamaa waren in der Lage, aus Kornblumen Dunkelblau zu gewinnen, aber ebenso jene in Setomaa und Rakvere. Und Jaan Jakobson hat eine lange, eingehende Anweisung aus Vastseliina aufgezeichnet, wie man aus Kornblumen ein Blau erzeugt, dass nicht durch Waschen oder durch Sonneneinwirkung ausbleicht.
 
Es gibt sicherlich viele Dinge, die wir über unsere Nationalblume noch zu entdecken haben. Vielleicht sogar, wann Kornblumen auf unseren Feldern zu blühen beginnen? Als ich meine Facebook-Freunde dazu befragte, meinten sie, es müsse um das Sängerfest herum sein, weil jeder Kornblumen in den Händen oder auf den Köpfen trage. Aber das sind meist Garten-Kornblumen. Hervorragend, dass Estland die e-Biodiversitäts-Datenbank hat, denn dort fand ich durch einen Hinweis des Pflanzenspezialisten Toomas Kukk den frühesten Fund – von meiner Studienfreundin Jana-Maria Habicht am 17. Juni gepflückte Kornblumen. Dort ergab sich auch, dass Kornblumen in Estland hauptsächlich im Juli blühen und dies bis Ende September dauert.
 
Zu einer Überraschung fand ich diese Woche in meiner eigenen Bildersammlung ein Foto einer blühenden Kornblume, dass ich am Võrtsjärv-See am 15. Juni gemacht hatte. Vom Kranbeeren-Anbauer Toomas Jaadla kommend, konnte ich einfach nicht an diesem Kornblumenfeld vorbeifahren ohne anzuhalten und ein paar Blumen zu pflücken. Also bedarf das Leben unserer Nationalblume eines genaueren und landesweiten Monitoring.
 
Es gibt einen weiteren interessanten Umstand, den Menschen, die noch keine Kornblumen auf einem Feld gepflückt haben, nicht wissen. Eine Kornblume kann tatsächlich mehr als einen Meter hoch wachsen. Gerade über den Kopf eines kleinen Kindes. An der Spitze des Kornblumenstengels gibt es nicht nur eine „Blüte“ – sondern vielmehr einen schönen blauen Blütenstand; es gibt da mindestens ein halbes hundert hervorsprießend. Alle in verschiedenen Stadien des Blühens – einige bereits weiß vor Alter, einige noch in der kegelförmigen Knospe, mit nur wenig blau unten an der Spitze.
 
Während viele behaupten, dass Kornblumen auf verdreckten Feldern wachsen würden, ist sie für mich ein Symbol der Reinheit und eine rein ökologische Nahrung. In mit Unkrautvernichtern besprühten Gebieten kann sie nicht wachsen. Aber auch dieses Thema bedarf einer genaueren Erforschung.
 
Kornblumensamen zwischen Roggen oder Weizen zu finden ist schwierig, daher hält sie sich hartnäckig auf unseren Feldern wachsend. Um Kornblumen zu pflücken, muss man immer eine Schere oder ein Messer mitnehmen, man kann sie nicht abbrechen. Entweder verlässt sie das Feld vollständig – mit der Wurzel – oder die Blume, die zu Pflücken versucht wurde, verbleibt, abgeknickt. Aber die übrigen Blumen versuchen, desto beharrlicher Samen anzusetzen und eine neue Generation zu erschaffen.  


 

EST EN DE ES RU  FORUM

       

Nachrichtenarchive