Vierte Mai-Woche: Lila Flieder

Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
 
Traubenkirschen-Blüten
 
Das Violett des Flieders eröffnet den Sommer immer mit einem Paukenschlag. Diese Jahreszeit beginnt, wenn niemand mehr an's Boiler-Anheizen denkt und die Schneeschaufelei längst verblasst ist. Es ist die rechte Zeit, an die See oder auf's Land zu ziehen.
 
Die vier Wetter-Zeichen dieser Woche:
Violette Glücksblüten, *
Elch-Babies,
Möwen auf dem Dach
und wunderbarer Sommer.
 
* [Blüten mit mehr als 4 Blütenblättern, jedoch nicht gefüllt blühend, denn das gilt als falsch; die Blüten sollen gegessen werden um Glück zu bringen]
 
Nun ist sie da. Die Zeit, wenn das Gras wächst und man dabei zusehen kann, wenn die drei Triebe des Gierschs so hoch am Landhaus empor kriechen, dass man, aus der Stadt für eine Ruhephase eintreffend, den unwiderstehlichen Drang verspürt, alles zu mähen. Nieder mit Sauerampfer und Giersch ... ihr seid alle zu hoch gewachsen und Salat von Euch schmeckt jetzt auch nicht mehr gut. Aber es ist immer noch sinnvoll, alle frischen Triebe der Weidenröschen zu sammeln und die Blätter der Schlüsselblumen, dann braucht man kein bisschen Grünzeug beim Händler zu kaufen. Der Blütenkranz de Waldsauerklees aus dem Forst ist bereits angewelkt, aber unter der Begleitung des Kuckucks findet man noch einige nette Tagesrationen davon. Die Saison des knackigen Zubeißens hat begonnen. Auf dem saftigen Gras hat die Begleiterin unseres großen Geweihträgers ihr kleines rotfelliges Elchjunges zurückgelassen. Anfänglich stakst es auf eher zu wackeligen Beinen, aber die ersten Spaziergänge macht es noch außerhalb des Weidengebüschs.
 
Es ist die Brutzeit der meisten Vögel. Das Blässhuhn-Männchen markiert die Reviergrenzen
 
Erste Familiengründer
Bald, bald fliegen die ersten Starenkinder aus den Nistkästen aus. Ihre Eltern haben bereits genügend Insektenfilets für sie transportiert und mögen keine Notiz mehr von den hungrigen Rufen der kleinen Familienmitglieder nehmen. Der Staren-Vater macht es mit schriller Stimme deutlich: „Kinder, raus aus dem Bau und sucht Euch Euer Futter selbst!“ Sogar die Kamera-Raben schicken ihren Nachwuchs hinaus in ein unabhängiges Dasein. Andere Vogeleltern sind nicht ganz so erfolgreich. Die Nachtigall beginnt mit ihrem ersten Ruf immer noch am Nest, aber sie tut dies jetzt sowohl unter Tags wie des Nachts, als ob sie vorher etwas zu tun versäumt hätte. Die Peitschenhiebe der Traubenkirsche werden in der Ferne vom fröhlichen Ruf des Wachtelkönigs begleitet: „Es ist schön im Heu, kräks“. Die tägliche Mauersegler-Rallye hat begonnen, und der Gesang der Grasmücken halten keinen Augenblick inne.
 
Die Zecken sind tatsächlich im Gras
Es gibt in diesem Jahr weniger Mücken als im vergangenen, aber auch nur eine einzige sirrende kleine Nervensäge kann einen Stadtbewohner zum Wahnsinn treiben. Jedoch schlüpfen in diesem Jahr die Zecken in die Kleidung der Menschen und sie sind so winzig, dass man sie nicht bemerkt, bis die Übeltäter sich eilig auf einem vollgesogen haben. Die Hummeln brummen beim Bau ihrer Nester, die dicken und drallen weiblichen Hummeln ganz besonders. Eine Wespe hat es bereits geschafft, eine große graue Nestkugel in den leeren Bienenstock zu kleben und war gar nicht erfreut, als ich versuchte, ihre Arbeit zu beenden.
 
Der Regen setzt die Schneckenarmee in Marsch. Gefleckte Schnirkelschnecke auf Giersch
 
Hochsaison der Gartenarbeit
Gärtner können nun getrost auch Saubohnen stecken, es scheint, dass Fröste sie nicht mehr zwicken werden ... aber die Tomaten- und Gurkenvölkchen scheinen sich noch nicht nach draußen zu sehnen. Der rosige Blütentraum der Apfelbäume hat bereits begonnen, vielleicht ist dies die schönste Zeit im Garten? Der summende Apfelbaum lässt ein heimatliches Gefühl im Herzen wachsen. Die goldgelben Trollblumen am Waldrand und die purpurnen Mehlprimeln am Brunnen fügen eine besondere estnische Note hinzu. Man ergänze noch die weißen Felder flauschiger Büschel vom Wollgras der Moore und hat dann das, was uns an Estland fesselt.  
 
Kastanienkerzen wecken Reisefieber
Immerhin ... jedes Frühjahr, wenn die Kerzen der Rosskastanie in ihrer ganzen weißen Schönheit entflammen, dann werden die Menschen im Land von einem außergewöhnlichen Reisefieber befallen. Diejenigen, die es damit nur bis zu den Gartenbeeten des Landhauses schaffen, sind zu bewundern. Ich war in dieser Woche nicht so bewundernswert, sondern zog bis ans Mittelmeer nach Sardinien, in eine „Ideen-Schmiede“. Die meiste Zeit saß ich unter einem Olivenbaum, wo mir die Blüten von den Zweigen in die Haare rieselten, und lauschte dem Konzert der Mauersegler. Tatsächlich flogen hier am frühen Abend Flamingos an Stelle von Kranichen von einer Lagune zur nächsten zum Schlafplatz und die Stadt leuchtete in pink-rot-vioetten Schattierungen aller Arten von Blumen. Aber auch hier war das Meer noch kühl und das Wetter kämpfte mit Regenschauern, die Einheimischen tragen tapfer ihre Jacken, unbeeinflusst vom Leuchten nackter weißer Waden der Nordlichter.
 
Die Sporen in den zapfenförmigen Kapseln des Winter-Schachtelhalms sind reif
 
Blumengeschichte: Goldkugel der Trollblume
In den lang zurück liegenden alten Zeiten hatte der Wind-Bursche die Neigung, kleineren Wesen zu schaden. Immer wieder ärgerte er kleine Insekten und Schmetterlingskinder. Oder ein kleiner Mückenjunge bekam einen hängenden Flügel oder einer jungen Spinne wurde das Netz zerstört. Die Kleinen gingen daraufhin zum großen Vater und beklagten, dass in dem wundervollen Frühling eigentlich kein Platz für den hänselnden Windburschen sei. Der alte Vater überlegte, was er mit diesem kleinen Notgroschen von Väterchen Frost und dem Sommermägdelein anfangen solle. Er rief die goldgelbe Trollblume zu sich, legte ihre Blütenblätter zu einer hübschen runden Kugel und sagte: „Von heute an sollst Du der Schutzengel aller kleinen Insekten sein, in Deiner Blütenkugel können sie Schutz finden — und mit neuem Namen wirst Du Kugelblume heißen.“ Und seit diesem Tag sind die Blüten der Trollblume voller winziger Insekten.
 
Zitat:
Trollblumen soll man nicht aus dem Wald mit nach Hause nehmen, wenn Hennen brüten, denn dann werden keine Küken aus den Eiern schlüpfen: die Eier werden taub.
 
Übersetzung: Liis und Leonia


 

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