Geschrieben und illustriert von Tiit Kändler
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
Der Mai hat große Augen
Im Mai ist alles ist neu im Garten. Der erste Schmetterling. Die erste Zecke. Die erste Fliege. Der erste Tag ohne Schal oder Mütze. Die erste Nachtigall – die aber natürlich manchmal nicht eintrifft. Aber manchmal kommt der erste Schnee statt dessen – der erste Frühjahrsschnee.
Die erste Mücke.
Das erste eingesäte Blumenbeet. Bestens erledigt in Toots Manier, mit vielen verschiedenen Blumensorten durcheinander. [Toots ist eine Figur aus der Literatur]
Das Schönste an dem Blumenbeet im Mai ist, dass man nicht zu jäten braucht. Sobald man es vorbereitet, gewässert, die Samen und eine dünne Erdschicht darüber ausgebracht hat – so wie ein fauler Mensch ein Gartenbeet anlegt – wird es einige Zeit brauchen, bis das erste Unkraut erscheint, und man muss es auch nicht sofort ausreissen, denn wer weiß, vielleicht ist es eine Blume.
Dann natürlich das erste Mähen des Grases. Aber so, dass die kleinen Bereiche gelber Anemonen erhalten bleiben.
Das erste Mal an der Küste, um die Unterwasser-Sandwellen zu sehen wie winzige kleine Dünen. Der erste Donner.
Mit einem oder besser mit drei Worten – erstmals im Mai. Was die Mücke angeht, zunächst eine Faust. Die des Garten-Werklers. Es ist wahr, man sagt, dass es unsinnig ist, draußen Mücken zu töten, es kommen sowieso weitere – was aber tun, wenn die Hand sich ganz nach eigenem Willen bewegt?
Interessant – empfindet eine Mücke Schmerz? Die Insekten-Leute versichern, dass es nicht so sei. Aber die Fisch-Leute protestierten auch, dass ein Fisch keinen Schmerz fühle. Und nun hat man festgestellt – zumindest bei einigen Arten – dass sie es doch tun. Es hat seinen Sinn vom Standpunkt der Evolution aus betrachtet. Hat nicht die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, sich entwickelt, damit man in der Lage ist, die eigenen Verletzungen wahrzunehmen, und um in der Lage zu sein, vor deren Ursache zu flüchten?
Im Fall der Mücke ist das Merkwürdige, wie sie es fertig bringt, den Geruch eines Menschen, den sie angreifen kann, aus derartiger Entfernung zu riechen. Sogar das hat man untersucht – ehrlich, bei Malaria-Mücken. Die erkennen einen Menschen durch den Geruch auf 50 Meter Distanz. Und geholfen hat hier keine andere als die beste Freundin der Genetiker, die Taufliege Drosophila melanogaster. Sie ist umgänglich und lebt zufrieden in den Labors und die Forscher haben auch gelernt, sie zu manipulieren. Nun hat man eine Taufliege entdeckt, der ein Riech-Rezeptor fehlt, und als man ihr einen von einer Malaria-Mücke implantierte, hat man schließlich herausgefunden, dass es nicht etwa nur einen und nicht nur eine Art Rezeptor für jedes Geruchsmolekül gibt, sondern dass sie in Gruppen arbeiten.
Es wurde auch festgestellt, dass die Geruchsrezeptoren der Taufliege besonders empfindlich auf Frucht reagieren, die der Mücken wiederum auf menschlichen Schweiß. Was jedoch bereits vorher bekannt war. Aber das ist typisch für die Wissenschaft – nachzuprüfen, was die Menschheit bereits weiß. Der Wissenschaftler ist ein Labor-Mensch, er ist kein Garten-Werkler – mag sein, das er einen anständigen Garten noch nicht einmal gesehen hat, geschweige denn Malaria-Mücken außerhalb eines Labors.
Die Augen haben im Mai im Garten viel zu tun. Denn Augen benötigen Licht und davon gibt es viel im Mai. Eigentlich sieht das Auge eines Säugetieres auch in der Dämmerung; dafür besitzt es spezielle Rezeptoren auf der Netzhaut. Nicht nur das, sogar besondere Rezeptoren für den Tagesrhythmus haben sich in der menschlichen Netzhaut erhalten, sie gehen zurück auf die Zeit vor 600 Millionen Jahren, als die Augen der Tiere gerade erst begonnen hatten, sich zu entwickeln. Das menschliche Auge entwickelte sich zu dem, was es jetzt ist vor weniger als 100 Millionen Jahren, und im Gegensatz zu den Facettenaugen der Taufliege oder der Mücke ist es ein Kamera-Auge. Es wäre im Kopf eines solch großen Wesens wie einem Menschen einfach nicht genug Platz für Facettenaugen gewesen – oder es hätte soviel Energie gekostet, sie herumzutragen wie das Transportieren von Fotokameras vor Jahrhunderten.
Tja und dann wird behauptet, dass die Farbempfindlichkeit eines Wirbeltierauges sich entwickelt habe, um Tiere im Wald besser sehen zu können. Um erkennen zu können, ob man besser auf dem Hacken kehrt machen und fliehen solle oder statt dessen angreifen. Aber was macht man mit diesem Wissen, wenn man beim besten Willen und wie sehr man seine Augen auch aufreisst, im Walde nicht ein einziges Tier siehst? Man kann ihnen nicht trauen.
Ach ja, ein weiteres erstes Mal im Mai – oder vielmehr viele: die kleinen Haufen der Wühlmäuse, die wie kleine Vulkane aufsteigen, unabhängig von Ort, Zeit und Raum. Aber die Wühlmaus selbst ist weder zu sehen noch zu hören, wie gut auch immer die eigenen Augen zur Kamera taugen würden.
Der Garten beendet sein Mai-Selbstportrait. Sein Papier und seine Leinwand sind die Blätter der Bäume und die Halme des Grases, der Ehrenpreis und die Leberblümchen, Sumpfdotterblumen und Buschwindröschen, Schlüssel- und Glockenblumen, Flieder und Kastanienblüten. Und natürlich Traubenkirschen-Blüten. Und Vögel, Vögel, Vögel.
Wie unterschiedlich das Laub in den Kronen der verschiedenen Bäume im Mai gefärbt ist! Der Übergang von einem Farbton zum anderen ist sanfter als im Herbst, aber auch pastellfarbener. Wenn der Sommer kommt, werden alle Farben zu einem nahezu eintönigen Blattgrün.
Das die verschiedenen Grünschattierungen in unserer Sprache keine eigenen Namen tragen – zeigt dies nicht die Begrenztheit unseres Denkens? Immerhin – blattgrün, salatgrün, giftgrün – auch wenn dies alles zusammengesetzte Wörter sind. Alle Arten von Wörtern kann man zusammenfügen, aber man wird nur versuchen, neue zu entdecken, die dann üblich, anerkannt und in Gebrauch genommen werden.
Der Garten kennt dieses Problem nicht, seine Sprache ist eine, die wächst und fliegt und schwimmt und irgendwie beschäftigt ist. Und diese Sprache ist nicht sehr schwer zu verstehen.