Garten-Werklers Jahr — Juni

Geschrieben und illustriert von Tiit Kändler
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
Juni: genug gemäht
 
Im Juni wird der Garten weit und reicht bis ans Meer. Aber die See bringt uns auf den Boden zurück, in den Garten, zeigt uns seine Vielschichtigkeit. Die Sonne ist trügerisch, heizt heftig vom Himmel, sogar die Wolken haben ihr Gesicht weit geöffnet und lugen über eine Ecke des Horizonts. Das Meer bringt uns auf den Boden zurück mit seiner ehrlichen Temperatur.
Im Hof vereinen sich die Bäume unter dem größten gemeinsamen Nenner im Jahr, dem Chlorophyll-Grün. Ja, wenn der größte gemeinsame Nenner im Garten das Juni-Grün der Bäume ist, dann ist der kleinste gemeinsame Nenner die Morgenluft. Sie ist klar aber nicht durchsichtig, kalt aber nicht kühl, leicht aber nicht fassbar.
Vermutlich hat es nur van Gogh geschafft, diese Morgenluft zu malen, und vielleicht hätte es auch Magritte gekonnt.
Im Juni haben Gartenwerkler ihre Kunst des Beetejätens zu vervollkommnen und die Philosophie des Rasenmähens zu schärfen. Wie entscheidet man, was Unkraut ist, was Gras, was Rasen? Besser gar nicht jäten, sonst jätet man noch das aus, was im Herbst Freude bereitet. Gleiches gilt für das Gras, das Gras, das vornehme Städter Rasen nennen. Welcher Rasen? Rasen wächst auf Gräbern? Gras ist natürlich grün, aber in ihm wachsen alle möglichen anderen Pflanzen, von Zeit zu Zeit bricht ihre Blüte aus und dann ist das Gras gelb-weiß-blau-rot-grün-gemustert, der Regenbogen des Grases ist aufgegangen. All dies wird man verlieren, wenn man zu oft mit dem Rasenmäher durch den Garten geht, jedenfalls wenn der Mäher arbeitet.
Natürlich ist einer der Klänge des Juni die Mischung der Rasenmäher-Geräusche, die in den Garten getragen werden.
Von irgendwoher taucht der Igel auf, mit einem Gesicht wie Maienzeit. Zwei Eichhörnchen-Junge versuchen, sich gegenseitig auf der Waldstraße zu jagen und bemerken noch nicht einmal den sich nähernden Menschen – entweder kennen sie die Angst noch nicht oder sie sind zu sehr in ihrem Spiel befangen. Selbstverständlich ist die Luft voller Mücken, singende Mücken, wie man sie liebevoll nennt. Die ethische Frage taucht auf – wo ist es akzeptabler, eine Mücke zu töten, draußen oder drinnen? Einerseits ist es draußen wenig sinnvoll, denn es kommt sofort die nächste. Aber drinnen ist es ebenso unpassend, schließlich kam sie, um einen zu besuchen. So sieht es die Mücke.
Ganz plötzlich fangen die Krähen zu kreischen an, bisher waren sie nicht zu hören. Anscheinend ist die Katze übermütig geworden, auf die Eberesche geklettert und hat die Krähen aus der benachbarten Fichte verscheucht. Was hat sie eigentlich in unseren Bäumen herumzuklettern!
Ein Sellerie ist im Gartenbeet gewachsen. Sellerie? Oh, das ist die Pfingstrose, die der Gartenwerkler auf dem Markt von einer netten kleinen Dame gekauft hat. Wer hätte das geglaubt! Eine Pfingstrose, die aussieht wie Sellerie – und auch wie Sellerie schmeckt. Wie soll es anders sein, als dass die moderne Gentechnologie nun auch Estlands Märkte erreicht hat.
Der Juni-Morgen macht ein Gesicht, als ob alles noch erst kommen würde. Es eröffnet nicht nur den Tag, sondern den ganzen Garten. Interessant – hat jemals jemand vernommen, dass irgendein Park in einer estnischen Stadt derart festlich eröffnet worden wäre? Einweihungen finden statt für Kläranlagen, Asphaltstraßen, bestenfalls eines steinernen Gastes zur Erinnerung an jemanden, der einst hier lebte und irgendetwas tat. Oder jemanden erledigt hat. Aber niemand ist geneigt, Parks einzuweihen, noch nicht mal Bäume.
Die Rosen in den Gartenbeeten sind auf der Hut, wollen teilweise gar nicht blühen. Im Gegensatz dazu zeigen die Wildrosen geradezu überbordende Blütenfülle. Und sie duften, sie durften viel stärker und angenehmer als die gezüchteten Rosen. Kein Grund, allzuviel darauf zu geben – sie müssen duften, damit jemand kommt und die Blüten bestäubt. Die Beetrosen haben diese Sorgen nicht.
Es ist wie mit den Hauskatzen und den verwilderten Katzen. Wo die Hauskatze 80% ihrer Zeit verschläft und jagt nur in 3% der Zeit, kann die heimatlose Katze nur 67% ihrer Zeit verschlafen, und muss während 17% der Zeit jagen. Und woher weiß das der Gartenwerkler? Er liest die Wissenschafts-Neuigkeiten und einer davon beschreibt, wie Wissenschaftler Katzen mit Sendern ausstatten. Und schwupps – wissen sie, dass die Hauskatze etwa zwei Hektar weit herumwandert, aber eine im Wald lebende Katze fünf Quadratkilometer. So kommt sie nicht weit nach dem Luchs, der es bei Bedarf auf 10 Quadratkilometer bringt. Damit ist der Garten der Katze etwa so groß wie zwei bis drei Fußballfelder. Kein Wunder, dass sie so lange schläft – wer kann schon einen so monströs großen Garten in Ordnung halten.
Im Juni wird deutlich, dass das virutelle Leben sich nicht am wirklichen Leben orientiert. Wenn die Zeitung in den am Gartenzaun hängenden Briefkasten fällt, dann ist es nicht wichtig, dass sie nur alte Neuigkeiten oder Antiquiertes enthält. Man kann seine Kaffeetasse darauf stellen und in den Ringen ihres Bodens zum Beispiel diese Neuigkeit lesen: die Augen eines menschlichen Fötus sind wie die Augen des Neunauges. Sie haben sich aus denen eines gemeinsamen Vorfahren entwickelt. Genau, das ist es. Was gibt es sonst zu tun, als seine Neunaugen zu nehmen und zu schauen, welchen Sinn man diesem Junitag im Garten gibt.


 

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