Gartenwerklers Tagebuch: Februar

Geschrieben und illustriert von: Tiit Kändler
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
 
Absoluter Schneemann und dunkler Schneemann. 
 
1. Februar
Wenn wir verkünden, dass es keine absolute Wahrheit gibt, ist das dann die absolute Wahrheit?
Na gut, es gibt keine absolute Wahrheit. Aber gibt es eine absolute Lüge?
Der Gartenwerkler hat festgestellt, dass man ihm einen Mangel an Toleranz vorwirft. Die Sache ist die, dass er es nicht mag, wenn dieser oder jener seine Seele terrorisiert. Und gelegentlich sogar geradeheraus sagt, dass er das nicht mag. Das bedeutet jedoch, er ist nicht tolerant. Aber glauben Sie, der Garten sei tolerant?
Kann ein Garten absolut tolerant sein? Der Werkler glaubt, ein absolut toleranter Garten werde schnell absterben, er werde, wenn nicht gerade Baustelle für die Akademie der Bildenden Künste, dann doch zumindest für dessen Tiefgarage werden.
 
2. Februar
Der Werkler liest eine wissenschaftliche Nachricht: Fruchtfliegen blicken gen Himmel, um auf Kurs zu bleiben. Daraus schließt er, dass der Himmel für die Fruchtfliegen so notwendig ist, wie, sagen wir die Luft.  
Die Luft ist für die Fruchtfliege notwendig zum Atmen und zum Fliegen. Alle Gase sind fürs Fliegen geeignet, mehr oder weniger, zum Atmen jedoch nur Sauerstoff. Sauerstoff ist die einzige Sache auf dieser Erde, die nicht allgemein gekauft und verkauft wird und auf der es kein Preisschild dafür gibt, wenn man ihn einatmet. Der Garten kommt gerade noch so über die Runden bezogen auf den Sauerstoff. Er erzeugt in seiner Lebensspanne soviel Sauerstoff aus Sonnenenergie und Kohlendioxid, wie nach seinem Tod benötigt wird, die Pflanzen zu zersetzen.
Der Mensch produziert immer mehr Kaffeemaschinen und Autos. Er stellt mehr und mehr Geräte in Gartenhöfe – Getränkestände und nett planierte, grasfreie Parkplätze. Dadurch kann der Garten weniger Sauerstoff erzeugen und das einzige, worauf der Werkler vertrauen kann, ist diese entsetzliche und ungeheuerliche Radioaktivität. Die Radioaktivität aus dem Boden und aus dem Himmel zerlegt die Wassermoleküle und hoppla! heraus springt Sauerstoff!
Aah, kühl und angenehm, nehmen Sie einen Atemzug.
 
3. Februar
Zwischen des Werklers Zimmer und dem Garten, an einem schattigen Pfosten, hängt ein Thermometer. Ein Thermometer ist ein Werkzeug, geschaffen um die Temperatur zu messen. Keine Temperatur ist besonders warm oder kalt, angenehm oder scheußlich für das Thermometer. Aber das Thermometer, so seltsam dies klingen man, hat ein gewisses Maß an Mitgefühl. Dem Werkler widerfuhr es, ein freundliches Thermometer zu bekommen. Wenn es entsetzlich kalt draußen ist, zeigt es zum Beispiel ein paar Grade wärmeres Wetter an. Und wenn es unerträglich heiß ist, dann wiederum zeigt es ein wenig kühler an. Das Fertigen benutzerfreundlicher Thermometer wie jenes mag eine gute Geschäftsidee sein, denkt sich der Werkler und geht, den Saunaofen anzuzünden. Und schaltet drinnen die Lichter an. Und das Thermometer misst weiter, es misst das, wozu es in der Lage ist.
 
6. Februar
Nur nach dem, was da ist, muss man auf dem Hof schauen, aber ebenso nach dem, was nicht dort ist. Was noch nicht entdeckt wurde, was verborgen ist. Nun, für die Astronomen gibt es so etwas wie dunkle Materie und sogar so etwas wie dunkle Energie. Und diese beiden bilden ihrer Ansicht nach mindestens 96 Prozent des gesamten Universums. Man stelle sich vor – wir kennen nur 4 hundertstel der eventuellen Welt. Ja und warum sollten wir nicht davon ausgehen, dass wir nur vier hundertstel unserer Nächsten und Liebsten kennen – weiter entfernte Wesen ungeachtet. Und warum sollten wir nicht an einen verborgenen Garten glauben, ein dunkler Garten größer sogar noch als der sichtbare und anfassbare Garten? Estnische Ökologen hatten kürzlich die Idee, nicht nur die biologische Vielfalt zu messen, das heißt, wie viele Arten im Garten leben, sondern auch die fehlende biologische Vielfalt. Sie nannten es die dunkle biologische Vielfalt.
Also schlagen unsere Ökologen vor, dass zu untersuchen, was nicht ist, oder sozusagen das Vakuum in der Sammlung der Arten. Gerade so wie virtuelle kleine Stücke aus dem Vakuum heraus schlüpfen und tatsächlich richtig gemessen wurden, so schlagen Meelis Pärtel, Martin Zobel und Robert Szava-Kovats vor, virtuelle Arten zu messen.
Klingt tatsächlich spektakulär – den dunklen Garten, den virtuellen Garten zu messen. Im Februar eine besonders fruchtbare Idee, wenn wenige Pflanzen fruchten und wenige Tiere an den Früchten sind. Vielleicht sollte man eher den dunklen Garten genießen anstelle jenes hellen, für den Werkler sichtbaren Garten?
 
7. Februar
Der Werkler erhielt von seiner Liebsten einen Kalender. Einen winzigen, mit Ansichten Roms. Ein Bild für jeden Monat. Dem Werkler gefällt der Kalender. Kommt Januar, und dann ist da das Kolosseum, kommt Februar und dann ist da die Piazza Navona. Ganz klar, Februar ist so viel kürzer als Januar, das Kolosseum würde nicht hineinpassen. Die Zukunft vorherzusagen ist ein riskantes Geschäft, aber der Werkler versucht es dennoch und sagt voraus, dass es im Mai die Spanische Treppe geben wird. Wir werden dann sehen, ob die Vorhersage zutrifft.
Also ist alles in Ordnung, nur eine Sorge bleibt. Der kleine Kalender hat einen Magneten auf der Rückseite. Und das heißt, dass ein entsprechendes magnetisches Material gefunden werden muss, an das sich der Kalender – klack! – selbst anheften würde. Deutlicher gesagt – ein eisernes Objekt wird benötigt. Aber soviel auch der Werkler suchte – er fand nicht ein einziges eisernes Objekt. Im Garten, natürlich, zum Beispiel den Spaten und die Harke, aber wie kann man einen Kalender im Winter an eine Harke hängen? Vielleicht im Mai, zur Zeit der Spanischen Treppe.
Es könnte auch in der Küche sein, in der Küche entdeckt man den Kühlschrank als das Gerät, das diese Anzahl von Magneten an der Tür trägt und hinter diesen Magneten ist das Essen. Dies wird bereits den Krippenkindern beigebracht. Kinder sind intelligent in der heutigen Zeit. Erhalten ihre Intelligenz durch die Milch des Kühlschrankes. Aber der Römische Kalender kann nicht an die Kühlschranktür angeheftet werden, dort stehen bereits Einsteins Formeln. Einstein musste aus Deutschland abhauen wegen Adolf, aber die Schreibmaschine*) auf Roms Piazza Venezia wurde von Benito gebaut, bekannt als Adolfs Freund.
So mag der Kalender zwar klein sein, aber die Not groß. Aber wenn die Not am größten ist, ist Hilfe am nächsten. Der Werkler beginnt Löcher in die Stromrechnungen mit dem Locher zu stanzen, um sie im Ordner aufzuheben zur Kontrolle für künftige Generationen – und der Kalender klack! hängt am Locher. Eisen, das Gerät ist aus Eisen, das einzige eiserne Gerät auf dieser Seite des Gartens.
Der Werkler stanzt Löcher in seine Rechnungen und sieht: Rom, Piazza Navona. Leute laufen herum, ruhig wie es scheint, glücklich so scheint es. Keine Stromrechnungen. Die Sonne scheint, herrliche Häuser werfen Schatten, der Brunnen spendet Wasser.
Kein Berlusconi, keine Eesti Energie – Estland Energie. Ein magnetisches Idyll.
 
*) Im Volksmund wird das Monumento Vittorio Emanuele II an der Piazza Venezia auch als Schreibmaschine bezeichnet.


 

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