Im Wald gewesen? Wolf gesehen? Geängstigt?

Foto aus dem Magazin Eesti Loodus, 3/1968
 
Der Wolf, 2013 zum Tier des Jahres gewählt, ist eine sehr beliebte Kreatur in Volkssagen. Man findet ihn häufig in Märchen, Legenden und Brauchtum, schreibt Folklore-Forscherin Marju Kõivupuu im Magazin Loodusesõber.
 
Metsä itti, metsä ätti,
metsä armas halli kuera,
metsä kuldane kuningas,
metsä kardane kasukas!
Ärä sina puudu puikusiie
ärä kisu kitseohlu,
ega ärä laku lambatalle!
Süö sina suosta sambelaida
mädajärvest mätta´aida,
lebäjärvest lehte´eida!
Suod olgu sinu soide´ella,
maad olgu sinu marada!
(Gemeinde Kuusalu, 1938.)
 
[Diese Verse sind eine Beschwörung, die den Wolf in den Mooren und Wäldern festhalten und von Schafen, Ziegen und anderen Haustieren fernhalten sollte, mit für estnische Volkslieder, Sprüche und Gesänge typischen Alliterationen im Text: kuldne kuningas, kardane kasukas, suosta sambelaida]
 
In estnischen Volksmärchen ist der Wolf ein dummes, leichtgläubiges Tier, ganz wie in den uns bereits aus der Kindheit bekannten Geschichten von Rotkäppchen [Grimms Märchen] oder den Drei kleinen Schweinchen [Walt Disney], aus den veröffentlichen Märchen europäischer Geschichtenerzähler, in denen eine Figur der böse, aber auch ziemlich dumme Wolf ist. Erinnern Sie sich noch, wie er mit seinem Schwanz in einem Eisloch zu fischen versuchte, oder unter dem Huf der Stute nachschaute nach dem Preis des Fohlens? Der Märchen-Wolf wird oft von den Haustieren besiegt, die der echte Wolf in der Natur schlägt, wo immer er eine Gelegenheit hat – Schafe, Ziegen und natürlich der Mensch. Übrigens haben Forscher der estnischen Tiermärchen festgestellt, dass im Gegensatz zum religiösen Glauben im estnischen Märchen-Repertoire keine Geschichten überliefert sind, die zeigen, dass Menschen wilde Tiere fürchten oder ihnen besonderen Respekt zeigen. Aber es ist sinnvoll, daran zu erinnern, dass aus der Sicht der Erzähler ein Märchentier einen besonderen Charaktertypus repräsentiert und die Charakterzüge in der Erzähltradition festgelegt waren. Diese eins-zu-eins auf die in der Natur lebenden Vorbilder zu übertragen wäre unfair und falsch.
 
Wolfsbegegnungen: Glück oder Unglück bringend
Die Überschrift dieses Textes stammt aus einem Kinderspiel, in dem man versuchte, des Gegners Wagemut und Tapferkeit herauszufinden. Zwei Spieler standen einander gegenüber, einer fragte den anderen: „Bist Du in den Wald gegangen?“ – „Ich bin“ – „Hast den Wolf gesehen?“ – „Ich sah“ – „Hattest Du Angst?“. Wenn der Gegner sagte, dass er keine hatte, wedelte man mit den Händen vor seinem Gesicht herum und machte scheußliche Geräusche. Wenn der Gegner dabei nicht blinzelte und ruhig an seinem Platz blieb, war er Sieger. Der Verlierer jedoch wurde als vor Wölfen ängstlich verspottet, “wagst Du es nicht, in den Wald zu gehen?” Im Glauben der Menschen wurde die Begegnung mit einem Wolf im Wald nicht immer als beängstigend oder schlechtes Zeichen betrachtet. In der Gemeinde Räpina dachte man, dass die Begegnung mit einem Wolf auf dem Weg zum Fischen Anglerglück bedeutete. Im südöstlichen Estland gab es den Glauben, dass wenn ein Wolfsrudel um ein Dorf herumlief, dann ein gutes und gesegnetes Jahr erwartet werden konnte. Aber aus der gleichen Gegend wurde auch eine völlig entgegengesetzte Auffassung überliefert – ein Wolfsrudel nahe des Dorfes weissagte, dass Nahrung teurer würde und es ein schlechtes Jahr das Geld betreffend würde. Generell wurde es für eine schlechte Vorbedeutung gehalten, ungewöhnlich viel Wolfsgeheul zu hören – danach wurden Kriegsausbruch, Pech, Missernten und Misserfolg beim Vieh, Schädlinge und Krankheiten vorhergesagt.
Während der Feldrecherche in Võrumaa konnte ich sogar noch in den 1990ern einige Erzählungen von älteren, damals 70-80 Jahre alten Leuten aufzeichnen, bei denen die Erzähler mit ihren eigenen Worten beteuerten, dass ihre eigenen Eltern oder Großeltern sie erlebt hätten: sie besagte, dass der Wolf sein Bein über einem Menschen hebe, der sich tot stelle. Und eine Person, über der ein Wolf uriniert habe, verliere ihr Gedächtnis und könne den Weg nach Hause nicht finden und wandere eine Zeit lang im Wald herum. Es sind Volkserzählungen von Menschen aufgezeichnet, die sich bei der Begegnung mit einem Wolf tot gestellt hatten, in dem sie sich auf den Boden legten, um den Wolf von sich selbst abzulenken.
Wenn eine schwangere Frau von einem Wolf erschreckt wurde, konnte das Kind eine „Wolfskrankheit“ oder ein „Wolfszeichen“ bekommen – letzteres war ein dunkles Muttermal, bisweilen behaart, das auf dem Kind erschien, wo die Mutter ihre Hand liegen hatte, als sie sich erschreckte. Falls das Kind unruhig war, schlecht schlief oder ähnlich dem Wolfsgeheul schrie, glaubte man, das Kind habe eine Wolfskrankheit, die man mit magischen Behandlungen unschädlich machen oder heilen könne. Das Kind wurde in den Rauch von verbrannten Wolfshaaren gehalten, es erhielt Wasser aus Wolfsfährten zum trinken oder wurde mit Flüssigkeit aus gekochtem Wolfsfleisch gefüttert – das Übel musste dorthin zurückgeschickt werden, wo es herkam. Bei der Gaumenspalte eines Kindes – einem “Wolfsrachen” – dachte man, sie sei verursacht, weil sich die Mutter während ihrer Schwangerschaft vor einem Wolf gefürchtet habe, oder anwesend gewesen sei, wenn Jäger einen Wolf gehäutet hätten.
 
Wolf schlägt Gespenster
In der estnischen Folklore gibt es zahlreiche Legenden und Erzählungen, in denen der Wolf Gespenster tötet. In einem beliebten Märchen sitzt der Geist irgendwo hoch oben, in der Spitze eines Baumes oder auf dem Dach einer Scheune und ärgert den Wolf: „Schau, Hündchen, ein Bein, schau, Hündchen das andere Bein“. Falls ein Zufallspassant den Geist herunterholt, tötet der Wolf diesen. Vom getöteten Geist verbleiben die wehenden Tücher oder ein geheimnisvoller blauer Rauch, wie es bei übernatürlichen Wesen üblich ist. Man sagt auch, ein Geist finde keinen Frieden, bis nicht der Wolf ihn drei oder neun Mal getötet oder gefressen habe. Gleichzeitig hat der Wolf eine bedeutende Rolle in der Volkslehre – sogar bei der Ermahnung Erwachsener, sich höflich und anständig zu verhalten, konnte der Wolf genutzt werden. Wer durch den Rauchfang hinauskroch, statt durch die Tür zu gehen, konnte vom Wolf gefressen werden.
 
Wer erschuf den Wolf?

Entsprechend der dualistischen Legendenbildung mit internationalen Motiven, wird der Wolf von Gott oder dem Teufel erschaffen. Je nach Schöpfer ist der Wolf in volkstümlichen Erzählungen oder Überlieferungen als gut oder böse dargestellt. Der vom Teufel geschaffene Wolf hat ein Herz aus Stein oder dem Stumpf einer Eiche; deshalb durfte man weder einen Stein nach dem Wolf werfen, noch ihn mit einem Eichenprügel schlagen – durch den Steinwurf oder den Schlag mit dem Eichenprügel erhält der Wolf Herz und Kraft und wird den Gegner sogar noch heftiger angreifen. Der Wolf wurde auch als des Teufels Pferd betrachtet, und wenn der Teufel selbst den Wolf reitet, kann er keine Haustiere töten.

Aber man sagt, Gott habe den Wolf für Waisenkinder geschaffen – wenn es keine Wölfe gäbe, würden arme Kinder verhungern, weil niemand benötigt würde, die Herde zu beaufsichtigen. Das Hütekind und der Hütehund hatten jedoch auf der Hut zu sein und aufmerksam, und den Wolf zu bemerken, bevor der Wolf sie sah. Dieser Glauben galt auch für Wachhunde – wenn der Wolf den Hund zuerst sieht, dann wird der Hund gebannt sein und kann nicht mal einen Laut geben oder sich selbst schützen.

Falls der Hütejunge den Wolfs sieht, bevor der Wolf ihn sieht, bleiben des Wolfes Kiefer geschlossen und können ihm nicht schaden, aber wenn der Wolf den Hütebuben zuerst sieht, wird sein Kiefer nicht geschlossen bleiben, und er kann Schafe töten. Des Schafhirten Stimme wird einige Tage lang versagen. Wenn jemand von der Winterkälte seine Stimme verloren hatte, sagte man: „Du hast einen Wolf gesehen, nicht wahr.” (Gemeinde Helme, 1890.)
 
Der vollständige Artikel wurde im Magazin Loodusesõber in der Februarausgabe 2013 veröffentlicht.
 
Translation: Liis und Leonia


 

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