Text: Kristel Vilbaste
Foto: Arne Ader
Schneemassen in Haanja am 9. Januar 2010. Die Schneelast hat Baumkronen zu Boden gedrückt.
„Wusch“ und eine Schaufel voll, „wusch“ und eine Schaufel voll! Zehnmal nacheinander und dann eine Atempause! Als ich die Schneewehen wegräume, sehe ich plötzlich eine kleine Spitzmaus neben der Schippe – sie versucht sich erst in eine Schneewehe einzugraben, dann in eine andere, schließlich trage ich sie zum Holzschuppen wenige Meter weit weg.
Die vier Winterzeichen dieser Woche
heulende Wölfe in der Nacht,
die roten Dompfaff-Bällchen im Flieder,
gelbes Wasser auf dem Eis des Teiches und
heulender Schneesturm!
Januar
Das Jahr begann mit einer mehr als einen halben Meter dicken Schneedecke in fast ganz Estland, örtlich gab es meterhohe Schneeverwehungen. Der Schnee war weich und pulvrig, sowohl Skier als auch Tierpfoten versanken darin. Der Frost hielt bereits die dritte Woche an und drückte die Thermometer-Anzeige bis auf 36 Grad unter Null in der Nähe von Paalmuse. Der Golf von Finnland fror zu. Aber die Meisen begannen mit ihrem Ruf "Zizidäh" (oder auf Estnisch „sitsikleit“, Sommerkleid).
Rebhuhn in einer Schneewehe
Februar
Der Monat der zusammenbrechenden Dächer, bei Väike-Maarja und auch anderswo in Estland stürzten Hausdächer ein. Die Menschen mussten stellenweise eine meterhohe Schneeschicht von den Dächern schaufeln. Die Schneeverwehungen um die Häuser reichten bis an die Regenrinnen, für die Fenster mussten Lichtschächte in den Schnee gegraben werden. Der glückliche Ausgang für ein ins Wasser geratenes Elchjunges im Blickfeld der Robbenkamera; in den Wäldern begann das Rehwild zu sterben. Bereits Ende Februar balzten die Krähen und die Seidenschwänze kehrten zurück.
März
Das erste Tauwetter des Jahres, die Schneewehen schrumpfen. In Võrumaa, wo nur 30 cm Schnee gelegen hatten, sah man das erste Grün vor den Hauswänden. In Tallinn starben die Schwäne wie dahingerafft. In der zweiten Märzwoche trafen bereits Stare, Lerchen, Kraniche und andere aus dem Süden ein. Kamera-Adler-Weibchen Linda legte zwei Eier. In der letzten Märzwoche erfreuten uns mit dem kleinen Fuchs bereits Schmetterlinge mit ihren leuchtenden Farben.

Hochwasser in Soomaa am 8. April 2010. In der ersten Aprilwoche stieg der Wasserstand des Flusses Raudna über den mit blauer Linie an der Saunawand von Kaukose festgehaltenen Höchstwasserstand der Flut von 1956.
April
In der ersten Aprilwoche öffneten sich die Leberblümchen und der Birkensaft war in diesem Jahr ungewöhnlich süß. Hochwasser, Dörfer und Felder waren überflutet. In Soomaa wettete man darüber, wie hoch der Höchstwasserstand über dem bisherigen Rekord liegen würde. Der neue Rekordhochstand lag dann am 6. April bei 4 Meter 94 Zentimetern. Der Peipussee stieg bis zum hundert Jahre alten Dünenhochufer, das Eis riss das gesamte Uferschilf mit sich.
Mai
In der zweiten Maiwoche gewitterte es kräftig und dann trafen alle Zugvögel auf einmal ein. Ende Mai wurde das Wetter so warm, dass wir im Peipussee schwimmen gehen konnten. Aber dann kamen die Mücken, aber nicht einfach nur Mücken, sondern eine ganze Mückenhölle. Die Traubenkirsche blühte gleichzeitig mit dem klebrigen Leimkraut und dem Wiesenkerbel, örtlich blühten die Apfelbäume vor den Pflaumen – die Zeitrechnung der Pflanzen war völlig verquer.

Von Mücken umschwärmter Elch
Juni
Anfang Juni gab es Champignons, am Monatsende Täublinge und Reizker. Die Blüte der Mittsommerblume Zinnie begann bereits eine Woche vor Mittsommer. Unmengen an Walderdbeeren. Es war regnerisch und ziemlich kühl. Am Monatsende gab es eine Hitzewelle, von den Mücken ging es über zu den Bremsen und Schnaken. Eine erste Blaualgen-Welle im Peipussee.
Juli
Einen Monat lang Strandwetter, die Sonne erwärmte die Küstengewässer bis auf fast 30 Grad. Im Peipussee begann ein Fischsterben. Sonne, Sonne, Sonne — und dann Gewitter. Am Ende des Monats legte ein Gewittersturm ganze Wälder nieder, am Peipussee fielen die Bäume wie mit der Sense gefällt. Das heiße Wetter ließ Melonen und Wassermelonen, Tomaten und Gurken, Himbeeren und Erdbeeren gedeihen – von allem gab es reichlich.
Als im August die Waldbrände in Russland wüteten, wurde in Estland eine Invasion von Rotfußfalken beobachtet.
August
Anfang des Monats flogen die Dächer und Gewächshäuser davon, die dem Gewicht des Schnees standgehalten hatten. Eine Sturmböe ließ den Kirchturm von Väike-Maarja ins Dach der Kirche stürzen. Die Bäume von Höfen und Stangenwäldern wurden flachgelegt. Badeseen wurden plötzlich überraschend kühl. Die Vögel machten sich recht früh auf den Weg in den Süden.
September
Unmengen an Pilzen, es gab keinen, der im Wald keine Pilze gefunden hätte. Im südlichen Estland gab es zuwenig Äpfel, im Osten ein Übermaß. Eicheln größer als je zuvor und große Kranichschwärme. Viel Rot in der Natur. Das Zirpen der Grillen endete mit der letzten Septemberwoche.
Gruppe roter Fliegenpilze.
Oktober
Der Morgenfrost begann in der zweiten Oktoberwoche, in der dritten fiel der erste Schnee – jedoch nicht auf gefrorenen Boden. Die Singschwäne haben viel Nachwuchs, viele "hässliche Entlein" (Jungschwäne) waren auf dem Durchzug zu sehen. Wieder legten Stürme Bäume nieder.
November
Am Monatsanfang versuchten einige Pflanzen erneut zu blühen, der Schnee hatte den Nesseln noch nicht geschadet. Bis zum Martinstag gab es Mücken, Fliegen, Nachtfalter und Fledermäuse. Am Monatsende gab es wieder Stürme und es fiel Schnee.
Diesen Winter gab es wenig Zapfen. Eichhörnchen futterten Fichtenknospen.
Dezember
Schnee, Schnee, Schnee. Die Schneewehen reichten schnell bis ans Fenster. Am Monatsanfang gab es an der Nordküste ein Gewitter mit Schneesturm. In der zweiten Woche gab es den Schneesturm des Jahrhunderts, 600 Menschen saßen in Padaorg 24 Stunden lang im Schnee fest. Am Monatsende waren die Schneeverwehungen meterhoch. Es begann das Freiräumen der Dächer, Gewächshäuser brachen zusammen. Es gab kein Tauwetter.
Nahe Võrtsjärv beobachteten Vogelfreunde gewaltige Stieglitz-Schwärme. Auf dem Bild Stieglitze mit Hänflingen.
Was war das Besondere im Jahr 2010 bei Ihnen in der Natur:
Mikk Sarv: nach 19 Jahren fiel die Wintersonnenwende wieder auf einen Vollmond, nach Estland kehren die guten Zeiten zurück.
Gennadi Skromnov: Zwei Winter in diesem Jahr. Januar und Februar ohne einen einzigen Tauwettertag und eine erstaunliche Anzahl von Tagen mit Reif. Ein Wintermonat mit Schnee und Gewitter. Das Lichte des Schnees erhellte die bedrückende herbstliche Dunkelheit (Kaamos, estnisch/finnisch für die Dunkelheit der langen Polarnächte).
Agu Leivits: Im südlichen Estland war das Hauptereignis natürlich das enorme Frühjahrs-Hochwasser in Soomaa! Aber neben dem Wasser gab es genug Hitze und Kälte – für die Moore war es ein gutes Jahr glaube ich, trotz des heißen Sommers ist ihr Wasserhaushalt ausgeglichen!
Kaja Kübar: Für das Rehwild war es sowohl zu Beginn wie am Ende ein schwieriges Jahr, annähernd ein Drittel der Population ist umgekommen. Die Eulen lernten, in den Städten Mäuse an Müllbehältern zu fangen.
Urmas Tartes: Sicherlich der Überfluss an Pilzen, sogar mein alter Freund, der sparrige Schüppling hat nach einigen Jahren wieder einige schöne Kappenbüschel gezeigt. Und sicherlich die Unmengen Schmelzwasser, die auch kleinste Hohlräume überfluteten, mit dem Ergebnis, dass im Wald abgelegte Mückeneier, die seit Jahren dort ausharrten, sich entwickelten und uns im Frühling und Sommer mit einer außergewöhnlichen Mückensaison erfreuten. Später ging die Mückenanzahl auf das normale Maß zurück.
Olev Merivee: Aus Sicht des Pilzsammler betrachtet – niemals hatte ich derartige Körbe voll Steinpilzen aufhäufen können . . . wir mussten uns nicht damit abgeben, die großen zu sammeln, wir hatten mehr Freude an den winzigen Däumlingen!!!
Arne Ader: Es gab einen solchen Zapfenmangel, dass die Eichhörnchen Knospen und Triebe der Fichten futterten. Im Sommer gab es riesige Stieglitzschwärme. Und mir gefällt der heroische Kampf um den Zauberbrunnen von Tuhula.
Ich selbst erinnere mich an ein stundenlanges Bad in 29 Grad warmem Wasser, und dies einen ganzen Monat lang, Tag für Tag.
Motto:
In der Natur gab es in diesem Jahr alles in Fülle – Schnee, Wasser, Sonne, Sturm und Schnee.