Gartenwerklers Tagebuch. März

Illustriert und geschrieben von Tiit Kändler
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
 
Wenn jemand am helllichten Tag träumt, mag es scheinen, als habe sein Hirn nicht genug zu tun. Doch mittlerweile ist deutlich geworden, dass während einer solchen Ruhephase das Gehirn nicht weniger aktiv ist als zum Beispiel dann, wenn man Auto fährt – obwohl letzteres doch eine wesentlich mehr Aufmerksamkeit erfordernde Tätigkeit zu sein scheint. Während des Ausruhens sind Bereich des Gehirns ziemlich aktiv, aber womit sie sich so auf eigene Faust beschäftigen, ist nicht weiter bekannt. Ebenso wie es nicht so deutlich wird, was das Hirm während des Schlafes macht. Aber dass es sich mit irgendwas beschäftigt, enthüllt sich am Morgen, wenn man erwacht, hungrig. Der Körper ruht, aber das Gehirn verbraucht dennoch Energie. Kurzum, jeder vierte oder fünfte Happen, den man zu sich nimmt, versorgt das Gehirn.
Der März ist etwas ähnliches wie eine Ruhephase in der Natur, und ähnlich wie bei der Ruhephase im Gehirn ist es doch überhaupt nicht so, dass gar nichts geschieht. Unter dem Schnee und im Schnee geschieht eine Menge.
In einem chinesischen Märchen wird Gelehrten erzählt, dass in einem Dorf ein kluger Junge lebe. Sie gingen zu ihm. Und unter anderem fragten sie den Jungen, wie viele Sterne am Himmel stehen. Der Junge dachte nicht lange nach, und antwortete, so viele wie Haare auf dem Kopf. Die Gelehrten staunten über die Weisheit des Jungen. Aber natürlich ist es heute bekannt, dass letztlich mehr Sterne am Himmel sind, als Haare auf einem Kopf. Zumindest auf dem Kopf eines Gelehrten.
Astronomen haben festgestellt, das es so viele Sterne am Himmel gibt, wie Schneeflocken auf dem Hof im Monat März. Und jeder, der das nicht glaubt, kann in den Hof gehen und zählen. Schnee im März ist wie ein Buch, in dem viel zu lesen steht. Man kann zum Beispiel an ihm sehen, womit sich Bäume am Ende des Winters beschäftigen. Fichtennadeln, Flechtenstücke, Zweige, Stiele, Zapfen und wer weiß was noch alles kann man auf dem Schnee in unzähliger Menge zählen und alles wandert ständig tiefer in den Schnee unter den immer wärmer werdenden Strahlen der Sonne.
An südlich ausgerichteten Hauswänden und sogar an den Rändern der Schneewehen bilden sich Landschaften, die man mit irgendwelchen mächtigen Gebirgsketten vergleichen kann — jedenfalls dann, wenn der Gartenwerkler sich geistig in einen kleinen Däumeling verwandelt, sind die Ausmaße dieser Schneelandschaften wirklich beeindruckend und sogar ein wenig beängstigend.
Die Vögel fliegen um ihr kleines Futterhäuschen herum und es sieht so aus, als wenn sie Samenkörner nur so zum Vergnügen herauspickten — der Schrecken des Winters scheint zu Ende zu sein. Selbst die Hunde etwas weiter entfernt im Dorf scheinen nur zum Vergnügen zu bellen. Wie ist es bloß möglich, dass irgendein kleiner Vogel nach diesem kalten Winter noch lebendig ist?
Mit der ersten tropfenden Traufe wandern die Gedanken zu einer singenden Drossel, die bald im Hof eintreffen könnte. Sicherlich wird sie hier eintreffen, denn wo ist die Begrenzung des Hofes? Endet er am Zaun oder an der ruhigen Biegung des Baches ein wenig weiter weg, der bereits zeigt, dass er fließendes Wasser enthält — oder gar an der Meeresküste, obwohl es jetzt im März kein richtiges Meer gibt, es erinnert eher an eine menschenleere künstliche Landschaft, wo zu bestimmten Zeiten, unter besseren Verhältnissen, etwas damals sehr Wertvolles ausgegraben wurde.
Der Schatten der Kiefernkrone fällt immer noch auf die Fenster des Hauses, die Mittagssonne steht noch nicht hoch genug, um darüber hinweg zu scheinen — es sieht aus, als sei die Kiefer gepflanzt worden, das Haus gegen den Frühling zu bewachen. Aber die Möwen fliegen jetzt schon kühn und singen unter einem Himmel in unbeschreiblicher Farbe, und die Meise begrüßt sie natürlich mit ihrem tsirr-rirr-rirr.
Der Märzenschnee ist lesbar, und die Tiere sind ebenso lesbar. Plötzlich fällt eine Gesellschaft Vögel in den Hof ein — oder ist es eine Bande? Sie fliegen um die kahlen Äste der dreifach gegabelten Birke, vielleicht suchen sie Hilfe bei dem Baum — die Knospen geben Kraft. Weil es noch keine Mücken gibt — was einer der Vorteile des Märzes ist. Die Vögel sind Birkenzeisige, die — gerade aus Lettland oder sogar noch von weiter weg eingetroffen — jetzt auf ihrem Weg nach Finnland sind. Die Vögel, das muss man sagen, sehen mehr Farben als die Menschen. Wir sehen nur drei Farben, es gibt in der Retina des Auges nur dafür Rezeptoren. Rot, grün und blau. Vögel sehen auch Ultraviolett. Und das ist der Grund, warum die Birkenzeisig-Männchen und -Weibchen für uns nahezu gleich aussehen, für die Birkenzeisige selbst sind die Geschlechter sehr unterschiedlich gefärbt. So wie sich der Hof selbst auch ganz anders sieht, als ihn die Augen des Gartenwerklers sehen.
Natürlich sind die Amseln hier, eine Weidenmeise hat sich in der Fichte hockend niedergelassen, aufgeplustert, als sei sie drosselgroß. Die Sonne schmilzt den Schnee um jeden Baumstamm herum, als ob sie ein Nest für den Baum bereite. Irgendwo hämmert ein Buntspecht herum, keine Ahnung, ob es ein neuer ist.
Ein Tannenzapfen fällt in den Schnee herunter, wer weiß, woher — seltsam, dass er sich so lange im Baum hat halten können. Wenn einem ein Tannenzapfen auf den Kopf fällt, sollte man es nicht übel nehmen. Man sollte sich eher einen Kopf darüber machen, ihn mehr im einzelnen zu untersuchen. Wie sind die Zapfenschuppen angeordnet? Überhaupt nicht wahllos, sondern in einem regelmäßigen Muster. Und dieses Muster ist nicht das einfachste. Die Tannenzapfenschuppen ziehen sich vom Stamm-Ende aus betrachtet in einer sich im Uhrzeigersinn bis zur Spitze hin windenden Spirale.
Die Samen einer Sonnenblume, die Wellen der Sanddünen oder die Fellmuster von Tigern oder Leoparden sind ebenfalls nicht zufällig. Mathematikern zufolge gibt es zwischen ihnen eine erstaunliche Ähnlichkeit. Die Muster entstehen in Systemen, die auf irgendeine Weise externen Belastungen ausgesetzt sind. 1917 veröffentlichte der Mathematiker und Biologe D´Arcy Wentworth Thompson das Buch „On Growth and Form” („Über Wachstum und Form”), ein Werk, dass sich als enorm einflussreich erwies und in dem er behauptete, dass die biologische Form mehr durch die Gesetze der Physik bestimmt wird, denn durch evolutionäre Entwicklung. Viele biologische und nichtbiologische Formen und Strukturen sind das Ergebnis von Einwirkungen physikalischer Kräfte. Die attraktiven Muster der Pflanzen sind die Frucht gemeinsamer Effekte mechanischer Kräfte und biochemischer Prozesse.
Die Muster entstehen, wenn das Gleichmaß des Systems ausfällt. Pflanzen mit ähnlichen Mustern haben ähnliche Symmetrien – sie sind nicht unbedingt aus den gleichen Elementen gebildet.
Aber Monate habe kein Gleichmaß. Der März erinnert an keinen anderen Monat. Und sogar die Monate verschiedener Länder haben keine Ähnlichkeiten. Wenn man zufällig Lyon in Frankreich im März besucht, dann wird man keinen Schnee sehen oder irgendeinen Frühlingsduft empfinden – obwohl die Stadt hübsch ist und es eine Menge kleiner Miniparks und landhausgroßer Grünanlagen und sogar große Parkanlagen gibt. Und von einem Landhaus zum anderen kann man mit dem Trolleybus fahren. Aber der Vorfrühling ist hier bereits vorüber, er ist nach Estland weitergezogen. So streunen die Monate umher und einige von ihnen kommen noch nicht einmal bis Lyon. Wie der Dezember oder der Januar der estnischen Hinterhöfe zum Beispiel.


 

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