Zweite Juni-Woche: die Farben der Pflanzen — im Hexenkessel

Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
 
Baumweißlinge am Ufer des Flusses Elva
 
Sechs Hexenkessel köcheln und blubbern, Strang um Strang kommt  aus den Töpfen zum Vorschein ... Eine Farbe schöner als die andere, Birkenblättergelb, das Grün des Färberknöterichs ... Und alle diese Farben passen wunderbar zueinander. Wahre Harmonie.
 
Die vier Wetterzeichen dieser Woche:
Schneeballblüten,
Kreischende Pirole,
Junge Hechte im Fluss
und Hagel.
 
Diese harmonische Welt der Magie haben wir unter Anleitung des Meisters Airi Gailit in den einen ganzen Tag lang auf dem Feuer stehenden großen Kesseln der Natur-Schule von Palupõhja heraufbeschworen. Die Gerüche von Alaunstein und Weinsäure tauchen als nebulöse Erinnerung von irgendwoher aus der Kindheit auf ... aber dass es notwendig ist, derart große Mengen an Pflanzen in die Kessel zu geben, habe ich tatsächlich nicht gewusst. Der Sachalin-Staudenknöterich wurde zum Star unserer Gruppe, mit Rhabarberbeize und Kupfervitriol entsteht eine wirklich schöne Farbe auf dem Garn — leuchtend grün! Aber Birkenblätter, Wiesenkerbel und Heidekraut sind so vielseitig verwendbar, mit ihnen kann man alle möglichen Farben zaubern. Da einzige Problem in dieser Welt der brodelnden Töpfe ist, den Mücken klar zu machen, das sie im Moment keine willkommenen Gäste sind. Die Farbzauberei wurde noch spannender durch die tickenden „Uhren“ im Schubkarren, die so wunderbar bunt waren, dass die neugierig vom Fluss zurückkehrenden Kinder mit ihnen herumspielten und umgehend unsere Uhren vertauscht hatten. So blieb uns nichts übrig, als sie herauszusuchen und dann angespannt zu warten. Der Höhepunkt fand nicht vor Mitternacht statt, als wir aus der Rauchsauna zurückkehrten, am ganzen Leib nach Rauch duftend und „schwarz“. Die Garnstränge, die aus den Kesseln ans Licht kamen, bildeten die schönste Farbpalette, die ich je gesehen habe. Es beginnt einem in den Fingern zu jucken, daraus sofort etwas zu stricken.
 
Blässhuhn-Nest mit gelber Sumpfschwertlilie
 
Gerstengrannen kratzen
Vor dem Hintergrund all diese Schönheit singt die Nachtigall ihre „zweite Schicht“. Der Kuckuck mischt sich mit rau gewordener Stimme ein „kuku - kuku“ [es heißt, der Kuckuck habe nach der Sommersonnenwende eine Gerstengranne in der Kehle]. Der gelb-schwarze Pirol flötet oben in der Birke ... doch ruft plötzlich „kräu - kräu!“ . Tatsächlich steht eine hohe weiße Gewitterwolke über dem Horizont, aber von ihr kommen weder Blitz noch Regenschauer, auch wenn Kaja Kübar aus Pärnumaa berichtet, dass es dort tatsächlich hagelt [der Pirol soll angeblich Regen bringen]. Der Mond wird langsam voll und das sollte die große Hitze beenden und ein wenig Regenerfrischung für den dürstenden Boden bringen. Ja, am Freitag sah ich in Põlvama sogar Pfützen auf der Erde. Nur das Wasser des Flusses hilft, Pille Tammur aus Palupõhja lobt ihren alten estnischen Lehrer — im Fluss gegen den Strom schwimmen. In der aufsteigenden Mittagshitze steigen Falken in die blaue Himmelshöhe, besonders fleißig sind die Bussarde im Mäusefangen, die hier und dort über den Feldern rütteln. 
 
Erdbeeren!
Die Uferwiese ist voller gelber Sumpfschwertlilien. Es gibt in diesem Jahr so viele davon, dass sich selbst die älteren Naturkundelehrer nicht an etwas ähnliches erinnern können. Am Flussufer blüht der Schneeball, der Wiesenkerbel steht in voller Blüte. Im Moor ist der Sumpfporst verblüht. Am Freitag fand Aotäht die ersten wilden Erdbeeren in Kütiorg und das kleine Mädchen stieß vor Entzücken Freudenrufe aus. Diese Woche sollten sie nach und nach in ganz Estland reif werden. Es hängt eine Menge Staub in der Luft — nicht nur der Staub der Schotterstraßen, sondern auch die Blütenpollen der Gräser. Der Roggen trägt Anhängsel und blüht, ebenso das Vogelgras [Wiesenlieschgras, Timothee], ebenso das Knäuelgras und das Ruchgras. Die Erbsen im Gartenbeet blühen und ebenso die Frühkartoffeln. Und auf den Feldern spritzen die Traktoren Gift.
 
Mit Blut vollgesogene weibliche Mücke auf einem Wiesenkerbelstängel
 
Die Pilzsaison kommt
Dennoch hat im regenarmen Estland die Pilzsaison begonnen. Der große Pilzkenner Parmasto schreibt: „Heute, am 5. Juni erschienen die ersten Stadt-Champignons in meinem Beobachtungsgebiet in Tartu. Genau dort, wo ich seit mehr als 10 Jahren ihre Vorkommen glücklich beobachten konnte. Ich prophezeie einen Rekord an Pilzmaden (das heißt, Larven von Pilzmücken, Pilzfliegen und anderen Insekten). Wir danken ihnen im Voraus — sie vertilgen selbst eine Anzahl Pilze, aber verbreiten auch fleißig die Sporen der Pilze.“ Es gibt nicht nur viele Pilzmücken, sondern auch diese surrenden Dinger, die menschliches Blut saugen. Es ist nahezu unmöglich, in den Abendstunden ihren rücksichtslosen Angriffen zu entkommen.
 
Paarungszeit der Schmetterlinge
In den Beeten vergossenes Wasser zieht derzeit eine große Anzahl von Bläulingen an, auch die Flussufer sind voll von diesen wunderschönen Schmetterlingen. Insektenkenner Urmas Tartes erzählt, dass sie natürlich in erster Linie zum Trinken an feuchte Orte kommen, aber sie benötigen auch Salze, Blütennektar reicht nicht aus, die schön gefärbten Flügel zu erzielen. „Auf Saaremaa gibt es eine erstaunliche Anzahl von Baumweißlingen und ich sah auch viele Raupen vom Braunen Bären.“ In Palupõhja flog der erste kleine Eisvogel herum, der kleine Fuchs aber sah ziemlich alt und mitgenommen aus. Es gibt viele Libellen, besonders die blauflügeligen Prachtlibellen. Und das Heer der Käfer versucht, Löcher in alles zu bohren, was von grüner Farbe sein könnte.
 
Pfirsichblättrige Glockenblume
 
Blumengeschichte: Die Entstehung der Kirchenglocken aus der Glockenblume
Die ersten Christen hatten keine Kirchenglocken, sondern wurden durch die Rufe eines Auserwählten zum Gebet gerufen, wie heute noch in den Ländern des Islam. Es war etwa vor 1.600 Jahren, das die erste Kirchenglocke vom Turm der Kathedrale von Nola erklang. Für den Erfinder der Glocke hält man den frommen und gelehrten Bischof Paulinus. Eines Abends ging der gottesfürchtige Bischof über eine Waldwiese, leise vor sich hin singend. Des aufsteigenden Abends Goldpurpur schimmerte im zart flüsternden Grün der üppigen Zweige umstehender Bäume, es lag ein gesegneter Frieden auf allem, so dass Paulinus zu beten anfing. Plötzlich begann es um ihn herum zart zu klingeln und der betende Mann hörte die Glockenblumen im Abendwind wehen. zur Erinnerung an diese Abendstunde ließ der Bischof eine riesige Glockenblüte gießen und in der Kirche von Nola aufhängen, dass sie die Menschen zum Gebet rufe.
 
Zitat:
Wenn es irgendwo ein Trinkgelage gibt, soll man gelbes Labkraut auf den Kamin legen; die Trinker werden miteinander zu zanken beginnen und das Gelage wird zu Ende gehen.
 
Übersetzung: Liis und Leonia


 

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