Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
Blühender Bibernell-Rosenstrauch
Durch den Nebel schimmern die gelben Blüten des Sonnenhutes wie Goldmünzen. Ich gehe hinauf zum Grat der alten Bergfestung, im Nebel heben sich blattgrüne Birkentriebe und dunkle, drohend spitze Fichten-Umrisse gegen den Himmel ab . . . Mittsommernacht!
Die vier Wetterzeichen dieser Woche:
Junge Grasmücken,
Wimmelnde Blumenwanzen,
Rote Rehrücken
Und der Mond — wolkenverdeckt.
Schon vor Mittsommer beginnt der Sommer. Es geschah bereits am Dienstag, dem 21. Juni um 20.16 Uhr. Die Jahreszeit beginnt, wenn Nacht und Tag für die Menschen ununterscheidbar werden. Die Zeit, wann man während eines Spaziergangs in der nördlichen Vor-Mittsommernacht auf andere Menschen trifft, nicht nur auf keuchende rotfellige Rehe. Man beginnt sich zu fragen, was die Leute dort draußen tun, mitten in der Nacht ... aber was mache denn eigentlich ich hier? Die Nächte sind so hell, dass man während des Wartens auf die Mondfinsterniss am vergangenen Mittwoch die Zeit des Mondaufgangs im Internet herausfinden musste, weil die Sonne einfach nicht unterging. Die nordischen weißen Nächte. Die totale Finsterniss des Mondes, die man besonders schön und rot von der Erde aus gesehen hätte, war von Wolken verdeckt, aber der Kompass des Smartphones spielte verrückt, und um den Weg zurück nach Hause zu finden, musste ich uralte Kenntnisse nutzen — der im Sonnenuntergang liegende Teil des Himmels war noch deutlich heller in dieser weißen „Nacht“. Anstelle der Mondfinsterniss konnte ich einen schön duftenden Arm voll von Labkraut, Ruchgras und rotem Straußgras mit nach Hause bringen.

Rehböcke im rötlichbraunen Sommerkleid streifen aufmerksam durch ihre Reviere; die Paarungszeit naht
Zeit der Erdbeer-Lippen
Das derzeitige Übermaß an Düften versetzt einen zurück in alte Zeiten. Der Geruch von Pfeifenstrauch wie aus der Kinderzeit und die bezaubernde Duftwolke der Bibernellrosen ... Die ersten Blüten der Sommerlinden in den Städten und natürlich die Vielfalt der Düfte einer Handvoll roter Walderdbeeren. Auf Ilmamägi holten wir einen großen blau emaillierten Krug voller Erdbeeren, einen Krug wie denjenigen, den ich zwischen den Mooren von Pärnumaa mit meinem Bruder besaß als ich noch Kind war — es fehlte nur noch das Einstäuben der Beeren mit Zucker und die Milch, gekühlt im Brunnen. Die ersten Erdbeeren waren warm und alle reif, sogar die Grashalme daneben waren gerade recht um Erdbeerketten zu flechten. Die Gartenerdbeeren waren ebenfalls reif und ich konnte einmal mehr die Bedeutung des alten Spruches „Wenn man die Banausen in die Sauna lässt ... " verstehen — nämlich die Bewohner des lang und sorgfältig gehüteten Amselnests im Schuppen, die nun glücklich in unsere Erdbeerbeete einfallen und die roten Bäckchen der Beeren anpicken, und sie sind von so „reizender“ Freundlichkeit, dass sie nicht einmal auf mein verhaltenes Aufjaulen hin verschwinden.
Wind in den Flügeln
Die Vogelwelt entwächst ihrer Nestlingszeit, überall sind bereits randalierende Jungstare, die Meisenjungen rufen aus den Bäumen laut nach Futter. Im Zilpzalp-Nest in unserem Mohnbeet kann man die neugierigen Augen der Küken bereit sehen. Aber ein Männchen zilpzalpt noch immer im Wald, einige vereinzelte Kuckucke versuchen sich auch noch mit kuckucken zu beschäftigen, nun aber begleitet von einem wütenden Schwarm an Kleinvögeln. Nur die Grauschnäpper bauen noch immer an ihrem Nest an unserem Fenster. Beide werkeln daran und diskutieren die ganze Zeit. Viele nichtbrütende junge Weißstörche sind auf den Feldern aufgetaucht, und nun sind dort auch noch Banden von Jungkranichen – allein 11 in Kütiorg, die von Zeit zu Zeit herrliches Kranichtrompeten hören lassen.
Entenküken auf Heuhaufen
Faulenzende Seevögel
In der zweiten Hälfte der vergangenen Woche war ich an der Küste in Nõva, um Material für einen Artikel zu sammeln. Von dort versendet Wettermann Gennadi Skromnov die Looduskalender.ee-Geschichten. Mit einem Kajak auf dem Autodach erschien er von einem Waldsee, aufgeladen mit frischer Energie, den Stadtstress losgeworden. Und wieder einmal wurde deutlich, dass man im Sommer in Estland keinen Strom oder andere zivilisatorische Annehmlichkeiten benötigt ... Im Meer unterhalb des Fensters wuselten zehn Brandenten-Küken um Mama und Papa herum, die Bachstelze hatte einen Pfad unter den Steinen des Badestegs ausgemacht. Am Abend dümpelten zwei SEHR entspannte Robben in etwa 10 Metern Entfernung, die Bäuche voller Ostseehering, während die Dünung ihnen sanft den kahlen Scheitel streichelte. Am Morgen sah ich, dass die Meeresentspannung auch die Vögel erreicht hatte, gegen acht, als die Waldvögel ihre triumphalen Oden bereits viele Stunden lang gejauchzt hatten, hatte das Schwanenpaar nicht einmal versucht, seine Bürzel in die Luft zu recken und am Grund im Schlamm nach Leckereien zu suchen; sondern sie schlummerten mit unter den Flügeln verborgenen Köpfen lässig im Sonnenschein ... Da sollten auch wir im Sommer von den Schwänen lernen!
Zeit der Fruchtreife
Aber die Menschen auf dem Land stehen morgens früh auf und lassen den Trimmer aufjaulen und den Rasenmäher ertönen. Die großen Brüder der Rasenmäher mähen die Wiesen, Landfrauen jäten im Feld. Der Roggen aber entlässt jetzt derart viel Pollenstaub, dass große Staubwirbel in der Luft sind, Frühkartoffeln werden angeboten, es gibt Unmengen Salate, viele haben ihren Vorrat an Salzgurken verzehrt, es gibt bereits frischen Honig. Kleine Kirschenfrüchtchen hängen in den Bäumen und die Erbsen zeigen Schoten. Der faule Mensch liegt in einer Hängematte und knabbert an spanischen Gurken, der fleißige bekommt einen herrlichen Teint, sowie Lebensmittel mit rechtem Geschmack und Geruch.
Kleines Mädesüß
Blumen-Geschichte
Die Farnblüte wird vor der Mittsommernacht gut beschützt. Man sagt, sie sähe aus wie die Blüte des kleinen Mädesüß: weiß. Sehr große Farne blühten besonders in der Nähe von Ameisenhaufen. Wer einen Schatz finden möchte, solle in der Mittsommernacht um Mitternacht nach einer Farnblüte suchen; mit dieser magischen Pflanze könne man unter die Erde schauen und verborgene Schätze entdecken. Der Farn müsse jedoch ausgehoben werden, als Ganzes, mit einem einzigen Spatenstich, sonst würden die bösen Geist, die die Blüte in dieser Nacht schützten, den Räuber mit sich nehmen. Aber es sei sehr schwierig, an diese Blüte Hand anzulegen, weil man sagt, sie blühe nur sehr selten und vor allem nur für eine einzige Minute in der Mittsommernacht.
Zitat:
Zu Mittsommer soll man einen Stängel Wermut mit Kupferdraht auf dem Dach befestigen. Dies soll das Haus gegen Blitzschlag und Feuersbrunst schützen.
Übersetzung: Liis und Leonia