Anfang Juli: Backofenglut

Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
 
Das Grün des Grases wird nun durch lila Weidenröschen kontrastiert. Visela-See im Otepää Hochland
 
Vidiit-vidiit! Kudli-kadli, kudli-kadli, kärr-r-r. Das rothalsige, langschwänzige Wesen vor meinem Fenster beginnt seinen Diskurs bereits um fünf Uhr früh. Er singt sein Morgenlied zu recht – für die Esten ist dieses Jahr das Jahr der Rauchschwalbe.
 
Die vier Wetterzeichen dieser Woche:
Das Blau der Heidelbeeren,
Welpen des Marderhundes auf den Straßen,
Das Weiß des Klees
und Gewitter.
 
Die Goldammer, die immer wieder hartnäckig die ersten Takte von Beethovens Fünfter Symphonie vorträgt,  mischt sich in das Gezwitscher der Rauchschwalbe. In einem Augenblick streckt die Sonne ihre göttlichen Finger durch ein Wolkenloch Richtung Boden. Das göttliche Licht reicht die ganze Strecke bis zu dem Kranich-Quintett, einer der Vögel begrüßt die Sonne mit fröhlichen Trompetenrufen. Die Menschen begrüßen  die Sonne nicht mehr so beglückt. Besonders nicht diejenigen, die das Wochenende auf dem Gelände des Liederfestes oder bei einem anderen Großereignis verbringen, und im Backofen der Natur braten. Die 30-Grad-Hitze beginnt die Gesundheit jedes Nordeuropäers zu traktieren. „Bis zum Hals im Wasser!“ ist jetzt der aller Leute Traum. Am Freitag Abend am Strand von Pärnu angekommen, weigerten sich die Leute sogar, das kühle Wasser zu verlassen, obwohl eine drohende Gewitterwolke aus Lettland heranzog, die unterwegs Bäume fällte und Glashäuser zerstörte. Es war ein magischer Anblick, bis zum Hals im Wasser stehend, einen Regenbogen vom Hansa-Tag-Festgelände im Zentrum von Pärnu bis zum Strand von Uulu reichend zu sehen — sieben strahlende Farben vom Licht der Blitze erleuchtet. Nur der ihre Kleidung nässende Regen ließ die Menschen wieder festen Boden unter den Füßen suchen. Aber schon am Morgen war der Strand voller Menschen, die das sonnenerwärmter Wasser genossen, sie lagen so dicht auf dem Sand, dass man keinen Platz fand, seine Füße zu setzen.
 
Der mit Insekten gefüllte Schnabel des Rotkehlchens zeigt: die Zeit der größten Insektenfülle ist gekommen!
 
Fellknäuel auf der Straße
Die Straßen sind voller herumlaufender Marderhund- und Fuchswelpen. An Orten, wo die Straßenränder nicht gemäht worden sind, sehen Autofahrer die kleinen Fellknäuel erst, wenn sie aus dem Pflanzendschungel herauslaufen. Das ungemähte Gras ist auch für die Vögel fatal: sie kommen nicht schnell genug vom Asphalt hoch wegen der Wand von Pflanzen, denn Höhe zu gewinnen ist anstrengend. Es ist auch so wenig Rehwild übrig geblieben, dass es sehr ungewöhnlich ist, sie an den Straßen anzutreffen, mehr als die Hälfte der Population ist im Schnee umgekommen. Und deshalb haben auch die Raubtiere im Wald jetzt Probleme, aber sie haben sich schnell an den Schwund ihrer Ressourcen angepasst und holen sich nun ihren Tribut aus dem „Selbstbedienungsladen“ der Heuwiesen. Jetzt schlägt der Wolf Schafe nicht nur in der Zeit, in der er dies den Jungen beibringt, sondern bereits seit dem Frühjahr.
 
Heidelbeeren, Moltebeeren pflücken
Die Gemüsegärtner genießen die ersten Ernten, Erbsen, Kartoffeln und die ersten Mauseschwänzchen an Karotten sind reif, nicht zu reden von Gurken und Tomaten. Gärten leuchten rot von Kirschen und Sauerkirschen. Die Wälder sind blau von Heidelbeeren, aber es gibt sie nicht überall, in diesem Jahr muss man seinen Stammplatz abernten. In einer Woche wird es sich in Süd-Estland lohnen, auf die erste Moltebeeren-Tour zu gehen. Vom Bootsanleger des Dorfes Maarja, hoch oben auf dem Ahja-Ufer, brachte ich in diesem Jahr die ersten Pfifferlinge in meiner Tasche nach Hause. Wilde Erdbeeren konnte man in diesem Jahr pflücken bis die Finger rot wurden, und es war genug, um sie einzufrieren.
 
Die Wiesen-Siegwurz (Gladiolus imbricatus) blüht auf Uferwiesen und Auen.
 
Blütezeit der Nationalblume
Das schmalblättrige Weidenröschen schimmert violett und kündigt den nahenden Herbst an. Unsere Nationalblume, die Kornblume, blüht blau zwischen den hohen Halmen des Roggen, es wird noch ein wenig dauern bis zur neuen Ernte, aber es lohnt sich ein Sommerausflug zum Besuch des Landwirtschaftsmuseums von Ülenurme, um zu lernen, wie man die Getreidekörner in einem Holzmörser mahlt und wie man einen blasenschlagenden Teig in die Brotmulde legt. An den Feldrainen streckt die Königskerze ihre gelben Blütenstäbe der Sonne entgegen, es steckt Energie in den summenden Weißkleewiesen. Die Grasstängel beginnen sich zu festigen, die Bauern mähen mit Höchstgeschwindigkeit. Schon kann man zum Schlafen in frisches Heu kriechen, den besonderen Sommernachtsduft von Heuhaufen genießen.
 
Froschpizza-Lieferservice
In den Storchennestern gibt es in diesem Jahr meist drei Junge, der Froschpizza-Lieferdienst ist ständig im Fluge. Kaja Kübar jedoch meint, dass es in diesem Jahr ein regeres Treiben von Störchen gibt. „Es gibt viele Nichtbrüter, die dauernd unseren Brutpaaren Ärger bereiten. Im Frühjahr waren die Altstörche so gestresst, dass sie drei Eier aus dem Nest warfen. Nun sind aus drei neuen Eiern  die Jungen geschlüpft, so dass unsere Jungen ein wenig jünger sind als anderswo. Aber auch jetzt muss das Weibchen noch dauernd das Nest bewachen, denn wenn beide Altvögel weg sind, sind die Vagabunden sofort wieder da.“ Die Wiese ist voller Bachstelzenküken, die ständig herumhuschen, und in den Bäumen zwitschern Kohlmeisenjunge mit den gelben Streifen entlang des Schnabels. An den Straßenrändern haben sich große graue Ringeltauben mit weißen Halsringeln versammelt, nur noch einmal hörte ich in dieser Woche einen Kuckuck rufen.

Die Estnische Ornithologen-Gesellschaft ruft alle auf, in diesem Sommer Rauchschwalben zu beobachten. Hier sehen wir eine Rauchschwalbe mit ihrem rostroten Bauch auf dem Draht einer Stromleitung sitzen
 
Blumengeschichte:
In alten Zeiten soll die Küchenschelle breite, ungeschlitzte Blätter gehabt haben. Der Gottseibeiuns, der die Menschen oft ärgerte, pflegte sich unter ihnen zu verstecken. Einmal sah ihn der Erzengel, und schickte zur Strafe acht Blitzpfeile in seine Richtung. Die Pfeile trafen die Pflanze und zerfetzten ihre Blätter. Seither sind die Blätter der Küchenschellen tief geschlitzt, die bösen Mächte scheuen die Pflanze und halten ein Dutzend Werst* Abstand. Deshalb wird die Küchenschelle zum Schutz an die Häuser gepflanzt.
 
*) Werst: ein altes Längenmaß, 0,67 km.
 
Zitat:
Getrockneter Sonnentau als Amulett getragen hilft gegen Zahnschmerzen und hält den Wahnsinn fern.
 
    
Übersetzung: Liis und Leonia


 

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