Dritte September-Woche: Nebeldecke unter Kranichflügeln

Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
 
Auerhahn und -huhn picken Kies von einer Forststraße
 
„Kru - kruu! Kru - kruu!“ klingt es von irgendwoher hoch oben. Gegen die grelle Herbstsonne blinzelnd erblicke ich endlich ein Dreieck im Augenwinkel – siebzehn graue Kraniche, Köpfe und Hälse wie Pfeile aufgereiht. Ja und hinter diesem Wolkenhügel ist eine andere Gruppe und dann dort, weiter oben ein dritter enormer Winkel!
 
Die vier Wetter-Zeichen dieser Woche:
Kranich-Winkel am Himmel,
müde Frösche,
rotbackige Ahorne
und eine blasse Katia.
 
Manchmal frage ich mich, warum so schöne Vögel und so wundervolle Rufe die Schlechtwetterboten unseres Volksglaubens wurden ... aber tatsächlich hängt der Himmel am nächsten Tag bald bis an den Boden, über allem liegt ein Nebelschleier so grau wie die Schwanzfedern eines Kranichs ausgebreitet. Ob es das Weinen des Sommers über den nahen Abschied ist oder die Magenangelegenheiten der Kranichhoheiten, aber egal wie, jeden Herbst zur September-Mitte, wenn die Sturmböen und der hohe Herbsthimmel aufeinander treffen, planen sie ihren Abflug. Nicht alle Kranichzüge können zur gleichen Zeit losfliegen, aber die aufmerksameren ziehen ... sich hochschraubend, immer höher und höher und endlich bleibt nur noch der Ruf in den Ohren der Menschen zurück. Aber der Herbst endet nicht plötzlich, gewöhnlich kommen große Gänseschwärme von den leergepickten Küstenwiesen des Nordens hierher und bringen uns einen „Altweibersommer“. Aber gesichert ist, dass exakt zu der Zeit, wenn die Kraniche ziehen, die Journalisten sich zu fragen beginnen, wie der kommenden Winter sein werde. Und wieder werden die gruseligsten Vorhersagen von einem unendlich kalten Winter gesendet, prophezeit nach Wetterweisheiten von Boden und Wald. Gleichzeitig prognostiziert die diesjährige Eichel-Ernte einen friedlichen Winter mit maßvollem Schnee. Und obwohl Kraniche und Gänse unruhig sind und die Buchfinkenschwärme bereits unterwegs, scheinen die zögernden Greifvögel ein Zeichen dafür zu sein, dass es noch keinen Grund zur Eile gibt.
 
Sanddornbeeren sind nun schwarz – vollreif
 
Adler – Grabenvögel?
Erst letzte Woche schrieb ich dass vor allem die Pelzträger des Waldes Begleiter der Menschen geworden sind und die Adler ruhig in den Wäldern bleiben – aber nein. Als ich am Donnerstag aus Tallinn kam, saßen zwei Schreiadler im Straßengraben in der Nähe des Flughafens und hackten auf einem Verkehrsopfer herum. Sie nahmen von den vorbeihuschenden Fahrzeugen keine Notiz, hoben nur ab und an ihre braunen Federhosen, um einen anderen Happen der Mahlzeit zu ergattern. Das sind also die „menschenscheuen“ Adler! Es gibt derzeit wirklich viele Greifvögel, es gibt auf den Drähten schaukelnde Bussarde, auf Pfosten sitzende Rauhfußbussarde. Einige hocken sogar auf Heuballen, aber es gibt in diesem Jahr ungewöhnlich wenige Heuballen auf den Feldern. Es scheint so, als ob es in diesem Jahr so viele Mäuse gibt, dass es nicht so dringlich ist, gen Süden zu eilen.   
 
Müde Drosseln
Ein großer Teil der Zugvögel hat bereits die Mietverträge für die Sommerwohnungen in Estland aufgelöst und wahrscheinlich sind viele der jetzt anwesenden Vögel bereits Bewohner nördlicher Regionen. Verheddert im Rocksaum der Sturmtochter Katia landeten viele ziemlich mitgenommene Drosseln hier, mit der nördlichen Menschen-Ungewohntheit im Gemüt, aber mit ihren Kräften völlig am Ende. So hockten sie irgendwo in einer Gartenecke oder am Straßenrand, pickten nach Würmern und erholten sich. Gleichzeitig sind die frischgepflügten Felder voller herumflatternder Kiebitze, die Frühlingsboten haben noch nicht den Herbst fortgeschafft und sind noch immer auf ihren Heimatfeldern. Aber sie sind bereits zu großen Schwärmen versammelt, bis zu Hunderte von Vögeln, gewiss warten auch sie auf die Abreise. Die überall herumeilenden Bachstelzen versuchen ein Sommergefühl zu zitieren und die Rauchschwalben kreisen über den Köpfen. Aber in dieser Woche wurde in mancher Vogelbeobachtungsliste verkündet, dass die Rauchschwalben vielerorts in Estland ihre letzten Jungen aus den Nestern geworfen haben. Selbst erfahrene Vogelbeobachter konnten sich dieses Verhalten unseres Nationalvogels nicht erklären. Aber wir können auch das gegenwärtige Handeln unserer eigenen Regierungsinhaber nicht erklären, obwohl sie die Gabe der Sprache besitzen.
 
Eichen-Falllaub und Steinpilz
 
Der Sturm brachte Röte
In der Pflanzenwelt sind die Dinge einfacher. Blätter werden rot, gelb und braun und der Wind reißt sie nach und nach von den Zweigen. Im Sog der Sturmböen dieser Woche fielen sowohl Blätter als auch eine gute Anzahl alter Zweige zu Boden. An unserem Ort in Kütioru fällte der Sturm sogar einen mittelalten Birnbaum. Die flammenden Häupter der Ahorne haben im südlichen Estland herrlich gemusterte Frisuren erhalten, in Nordestland sind sie grüner. Blühende Löwenzahn und Klee im Rasen versuchen hartnäckig, Frühlingsstimmung zu erzeugen. Man hört sogar von einer blühenden Lilie. In unserem Garten blüht weiterhin der Kürbis und bildet kleine Kugeln. Die Kartoffelernte ist in diesem Jahr dürftig, aber ein Grund dafür liegt in den Schwarzkittel-Rüsselchen, die sofort versuchten, die Kartoffeln zu ernten, kaum dass die Knollen in der Erde waren, um nun im Herbst vor uns dran zu sein. Aber es gab genug für beide Seiten, zudem einen großen Sack Topinambur, der mannshohe Stängel zwischen den Kartoffel-Reihen getrieben hatte.
 
„Narkotisierte“ Frösche
Die Frösche in den Kartoffel-Furchen sind sehr schläfrig und ziemlich irritiert durch das spritzende Erdreich, aber Kröten wie auch Knoblauchkröten kriechen wieder in den Boden zum schlafen. Regenwürmer befinden sich alle noch schön in der oberen Humusschicht, es gibt nicht besonders viel herumlaufende Käfer. Die Schnecken sind weg, aber Libellen ließen sich glücklich zwischen der Kartoffelernte auf der warmen dunklen Erde zur Rast nieder. Die Wespen sind so dösig, dass es ihnen kaum gelingt, einen Bissen von den Äpfeln auf dem Tisch zu nehmen, Mücken sind verschwunden, dafür ist alles voller Fliegen. Auch Zecken sind noch unterwegs. Und selbst wenn sich einem während des Sommers keine in die Haut verbissen hat, fühlt man sich doch lethargisch und ein Glied oder ein anderes neigt zu schmerzen, dann lohnt es sich, das Blut auf Borreliose testen zu lassen.
 
Aus dem Autofenster kann man häufig Greifvögel beobachten. Schreiadler am Straßenrand
 
Blumengeschichte: Flug der heiligen Ulme
Die heilige Ulme von Massu soll in alten Zeiten an einem anderen Ort gewachsen sein. Da gab es drei Baumbrüder. Sie wuchsen ziemlich nah am Wald auf. Mit der Zeit merkten die Dorfbewohner, dass die Ulmen näher zum Wald gerückt waren. Aber keiner hatte sie wandern gesehen. Eines Nachts verschwand eine Ulme. In der zweiten Nacht verschwand die zweite und in der dritten Nacht flog die dritte Ulme davon. Diese „regnete“ bei Vändra Massu nieder. Und da es ein Baum war, der „vom Himmel fiel“, begannen die Menschen, sie als heilig anzusehen.
 
Zitat:
Viele Nüsse und Eicheln im September bringen einen langen, harten und kalten Winter.
 
Übersetzung: Liis und Leonia


 

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