Letzte Septemberwoche: der Schwanenflügel frostige Woge
Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader
Die Zeit der goldenen Herbstfarben hat begonnen. Der Väike-Nõuni See im Otepää Hügelland
Ich lausche. Lausche noch einmal, steige sogar vom Fahrrad. Ja. Aus dem Loch in der blauen Hagelwolke erscheint ein silbriges Dreieck. Große schwanenweiße Schwingen tragen fünfundzwanzig Singschwäne Richtung Westen, ihr freundliches Geplauder untereinander erreicht sogar mein Ohr.
Die vier Wetterzeichen dieser Woche:
Die bellenden Rufe der Pfeifschwäne,
Das Wildschwein-„Kurkse“ von Pärnu,*
Schopftintlings-Schwemme
und Altweibersommer.
Ich frage mich, worüber diese schönen Vögel miteinander zu plaudern haben mögen. Obwohl ich sogar fleißig auf Halmen von Ruchgras kaute, wurde mir nicht die Gabe verliehen, die Vögel zu verstehen. Aber vielleicht haben die Singschwäne ein morgendliches Infotreffen und diskutieren, wie man in der laufenden Woche auf Kurs bleibt, wie die Tendenz bei den Winden und auf dem Kältemarkt oder wie hoch der räudefreie Fuchsanteil an dieser oder jener Küste sei? Nein, verrückt, so etwas zu denken. Derartig schöne und poetische Sehnsuchtsstimmen können nicht dazu da sein, solche Alltagsdinge festzuhalten. Sicherlich finden sich in jenen Schwanenrufen die nordischen Joigs**, der sanfte Schimmer der hellgrünen Seen Lapplands, der ferne Glanz der traumblauen Tundra, das Trippeln der Füße kleiner Daunenschwanenkugeln, und der hohle Ruf der Eistaucher aus der Zeit der nie untergehenden Sonne. Oder das Abschiedslied der Heere grüner Nordlichter und hartnäckiger Herbst-Erkältungen. Ja, die aus einem Augenwinkel rinnende Träne erzählt etwas anderes: „Zieh, zieh, zieh – zieh mit den Schwanenschwärmen zur Hoffnung. Um den Alltag zurück zu lassen!“ Aber nach dem Abzug der Schwäne kommt die Zeit der Seelen, und strahlend weißer Schnee und auf dem Tisch schimmernde Kerzenflammen löschen das pochende Verlangen in unserer Brust und bringt den Frieden des Winters.
Eichelhäher sammelt Eicheln
Vogelbeobachtungsmorgen auf dem Rad
Ich bekam den frühmorgendlichen Schwanenpulk nur dank des Umstands zu sehen, dass ich an dem Vogelbeobachtungs-Wochenendereignis BirdWatch 2011 teilnehmen wollte. Ich strampelte am Sonntagmorgen meinen üblichen Weg bei Raadi, insgesamt 70 Vögel, keine große Ausbeute für 20 Minuten, aber jeder Vogel besaß seine eigene Geschichte. 3 Kernbeißer sind bereits seit einer Woche in unserer Hecke dabei, Mirabellpflaumen-Kerne zu knabbern, in Gesellschaft fröhlichen Spatzengetschilps. Die Meisen ziehen, ein recht großer und aufgeregter Schwarm flog über meinen Kopf hinweg. Die letzten Lerchen zogen auch davon, die Bachstelze rief nur leise einige Male und auch das Ticksen des Rotkehlchens war zu hören. Und dann kamen die Schwäne, ich visierte sie eine lange Zeit. und dann fiel plötzlich eine große schwarze flatternde Krähe vom Himmel – die Saatkrähen waren im morgendlichen Schnellrestaurant aufgetaucht und zogen Regenwurm-Toasts aus dem Boden. Aber sie wurden von einem Heringsmöwen-Trio zu Fall gebracht, wahrscheinlich erschreckten die falkenartigen Vögel die Schwarzkittel. Und dann waren da noch Dohlen und Rabenkrähen, nur die Elster verschlief den Vogelzählungsmorgen und ließ sich nicht sehen.
Schönheit aus der Erde
Rad hinein in die Garagenecke und nun ist es Zeit nachzusehen, was aus der Erde hervorwächst. Kälteschlotternde Pflanzen sind besiegt, und jetzt blühen diejenigen, die das auch unter dem Schnee können. Das kleine weißäugige Hirtentäschelkraut und die rote Taubnessel. Das einjährige Rispengras hat neue Blütenrispen gebildet und Schafgarbe und geruchlose Kamille schwingen ihre weißen Köpfe. Und sogar eine perfekt gelbe und sommerliche Sonnenblume blüht neben dem Baumstumpf, wo die Meisen im vergangenen Winter Sonnenblumenkerne vernaschten. Aber die Ahorne wurde in einer Woche feuerrot, die Ebereschen speien ebenfalls Feuer. Die Rosskastanien sind eine gefährliche Zone, aus ihnen fallen stachelige Igel ebenso wie braune kleine Kugeln. Oh ja, und mehr über Vögel, zum Entzücken der Ohrensessel-Vogelbeobachter begann die Live-Doku-Serie des Zuglebens zweier Jungkraniche im Internet (birdmap.5dvision.ee), ergänzend zum Adler- und Schwarzstorchen-Kino.
Schopftintlinge wachsen auf Parkwiesen und Weiden
Beginn der Nachtfröste
Der Herbst zeigte freilich seine Macht gerade Sonntagnacht. Auf dem alten Pfarrgrund von Kõrve gab es den ersten beißenden Frost dieses Herbstes, fast mehr als -1 Grad während des morgendlichen Sonnenaufgangs. Der Windchill-Effekt wurde sogar auf fast -4 Grad geschätzt. Es war auch faszinierend, auf der Wetterkarte zu beobachten, wie die Gewässer abkühlten – in den Gewässern des Festlandes geht keiner mehr schwimmen, 10-12 Grad ist zu kalt zum Baden, die 14 Grade des Meereswassers mag ein abgehärteter Mensch ein morgendliches Erfrischungsbad lang aushalten. Aber die Temperaturen werden nun nach den ersten Nachtfrösten abwärts gehen, obwohl es am Wochenende tagsüber sonnig war und der Altweibersommer auf vollen Touren.
Im Wald vorsichtig sein
Die Pilzkörbe sind wie zuvor berstend voll, ein Korb voll rotbrauner Milchlinge kann im Handumdrehen gepflückt werden. Sogar Pfifferlinge lächeln unter kleinen Fichten in Nadelwäldern. Und städtische Wiesen sind dicht mit Schopftintlingen bedeckt, es wäre interessant, Tinte aus ihnen zu machen und nach einer Schwungfeder von einem der Gänsevölker zu fragen, die vorüber flogen. Allerding sind auch die nächtlichen Stimmen besonders faszinierend. Bruder Enn erzählte, dass in den Sümpfen Nigulas die Pfeifschwäne in der Nacht bellend rufen, frühmorgens begannen die Auerhähne zu gurren. „Der erste Frost am Sonntagmorgen war besonders geheimnisvoll, Hunderte von Eisnadeln schimmerten im Licht der Dämmerung, über all dem Glitzern der Nebel eines goldenen Sonnenaufgangs.“ Wir wurden von den Straßenrändern mit großen Augen beäugt, die Käuze waren auf den besseren Jagdgründen eingetroffen, zum Glück besteht ihre Beute meist aus Mäusen. Die Menschentiere sind ebenfalls auf der Jagd, hier und da sieht man in den Autos der Rotjacken lange weiße Elchläufe, die Elchjagd hat begonnen. Vernünftige Leute gehen jetzt nicht in die Wälder, in der Spannung einer Treibjagd sind die Nerven der Jäger ungeduldig und sie schießen auf jedes sich bewegende Objekt.
Spitzhornschnecken genießen ins Wasser gefallene Blätter von Landpflanzen
Blumen-Geschichte: Wie die Birke ihre schwarzen Streifen bekam
Es geschah, als die Stämme aller Birken noch schneeweiß waren. Einst ging ein Mann Birkenreiser für einen Reisigbesen holen, weil diese die besten Besen ergeben. Er ging zu einer Birke und fragte: „Liebe Birke, gestattest Du, dass ich mir von Deinen Zweigen nehme?“ Aber die Birke war egoistisch und sagte dem Mann: „Geh anderswohin. Ich mag meine Zweige nicht für einen Besen hergeben.“ Der Mann bat, aber die Birke gab nicht nach. Schließlich wurde der Mann zornig und sagte: „Wenn Du mir keine Deiner Zweige geben willst, dann nehme ich von Deiner Rinde-“ Der Mann begann an der Birke zu kratzen und bald war der Stamm ohne Rinde. Danach ging der Mann zufrieden heim. Als der Vater Wald die Birke am nächsten Tag sah, konnte er sein Erstaunen nicht verbergen. Als er aber hörte, dass die Birke egoistisch gewesen war, wurde er über den Baum wütend. Aber da die Birke versprach, zukünftig großzügiger zu sein, versuchte er wieder Rinde wachsen zu lassen. Wegen der Flicken auf dem Stamm trägt die Birke nun für immer schwarze Streifen.
Zitat:
Zum Reif gibt es folgenden Hinweis: wenn der Reif auf der Unterseite der Zweige ist, dann wird der kommende Sommer sehr regnerisch, aber wenn der Reif auf der Oberseite sitzt, oder stärker aussieht als auf der Unterseite, dann wird der folgende Sommer sehr trocken sein.
Übersetzung: Liis und Leonia
* In Kurkse ereignete sich einst eine Tragödie, bei der Ende der Neunziger Jahre 14 junge Soldaten beim Durchwaten des Kurkse-Sundes ertranken. Darauf wird angespielt in Bezug auf ein Ereignis Ende September diesen Jahres, bei dem eine Rotte von 15 Wildschweinen, zumeist Frischlinge der vergangenen beiden Jahre, im Meer bei Pärnu ertrunken ist, nachdem sie panisch ins Wasser geflüchtet waren. Einzig eine Muttersau rettete sich auf einen steinernen Wellenbrecher.
**Joigs sind kehlig röhrende Gesänge