Telemetrische Untersuchungen mit Senderhalsbändern bei Wölfen wurden in Estland noch nie so gründlich wie in den letzten Jahren vorgenommen, mit dem Ziel, ein Rudel vom anderen ausreichend gut zu unterscheiden und die Zahl der Wölfe nicht zu überschätzen. Eine gängige Annahme war, dass Wölfe in kleineren Revieren lebten, und dass sie zahlreicher seien, als sie tatsächlich sind. Das Kikepera-Rudel zum Beispiel hat die Forscher mit seinem großen Revier überrascht, das nach vorliegenden Schätzungen 980 Quadratkilometer beträgt.
Text: Marko Kübarsepp und Peep Männil
Fotos und Wildkamera-Bilder Marko Kübarsepp
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
Im Juli geborene Welpen werden noch nicht auf die Jagdausflüge des Rudels mitgenommen
Als zwei männliche Wölfe 2012 von Forschern mit Sendern versehen wurden, wurde ihr gemeinsames Rudel nach seinem Heimatrevier Halliste-Rudel genannt. Die Kikepera-Wölfe, die in der Nähe leben, waren vorher untersucht worden und daher war es bequem nach geeigneten Wölfen aus dem Nachbarrudel zu schauen und ein Jahr später zum Kikepera-Rudel zurück zu kehren als es notwendig wurde, einen weiblichen Wolf zu finden, dem das Senderhalsband passte. In diesem Herbst tragen Alphaweibchen aus Halliste ebenso wie aus Kikepera Senderhalsbänder; dies bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Beziehungen zwischen den Nachbarn zu erkunden. Aber um nicht vor der Geschichte zu beginnen, fangen wir mit Hall (Grau) und Habe (Bart) an.
Was Habe für Hall war – ein Bruder oder ein anderer Verwandter – ist nicht bekannt, aber es wird vermutet, dass vermutlich keiner von beiden das Alphamännchen im Rudel war. Für die Forschung sind solche Fakten wichtig, weil junge Wölfe immer Orientierungstouren außerhalb des eigenen Territoriums zusammen mit dem Leitwolf machen, was das Revier des Rudels künstlich vergrößert erscheinen lässt. Halls und Habes Senderhalsbänder haben wertvolle Informationen übertragen und bieten einen angemessenen Überblick über die Bewegungen des gesamten Rudels.
Das Geheimnis des Halliste-Rudels
Als wir Hall erfolgreich im September 2012 in einer Falle fingen und das Senderhalsband an seinem Hals befestigten, bestand das Wolfsrudel von Halliste aus 8 Individuen – 4 Erwachsenen (1 Weibchen und 3 Männchen) und 4 Welpen. Zudem lebte auch eine einsame Wölfin, die sich von Zeit zu Zeit mit dem Rudel herumtrieb, auf dem gleichen Gebiet. Das Halliste-Rudel war also ein recht großes Rudel, bestand aber in dieser Form nur bis Ende Dezember, als eine ungewöhnliche Auflösung stattfand. Forscher entdeckten plötzlich, dass nur noch eine Gruppe von 3 Individuen im Revier unterwegs war – Hall, der andere besenderte Wolf, Habe und eine Wölfin. Der Zerfall eines Rudels in Untergruppen wäre nicht so selten, wenn er sich im Januar vor der Hitzephase ereignet hätte, aber in diesem Fall ist dem Anführerpaar des Rudels irgendetwas passiert. Was, ist nicht genau bekannt, aber plötzlich waren sie nicht mehr da. Spuren einzelner Jungtiere wurden im Aufzuchtgebiet von Forschern noch 21 Tage lang nach dem Auseinanderfallen des Rudels gesichtet, aber danach noch nicht einmal diese. Solch eine plötzliche Zerstreuung eines Rudels zeugt in der Regel vom Tod mindestens des führenden Weibchens. Von finnischen Forschern sind Berichte bekannt, in denen die Mutter stirbt und danach das Männchen aus irgendeinem Grund ebenfalls verschwindet, die Jungen sich selbst überlassend. Im Gebiet von Halliste ist die Jagd auf Wölfe jedoch verboten und ausgewachsene Wölfe sterben vergleichsweise selten an natürlichen Ursachen, daher besteht immer die Möglichkeit, dass Wilderer schuld sind.
Drei nach Lettland
Die Wanderung des verlassenen Rudels nach Lettland deutet ebenfalls auf einen rätselhaften Tod hin. Normalerweise wird ein Rudel nicht durch fremdes Gebiet streifen. Durch die „lettische Reise“ im Januar 2014 wurde Halls durchschnittliche Kilometerleistung künstlich vergrößert. Weil es eine einmalige Tour war, glauben wir, dass sie sich auf die Suche nach ihren fehlenden Kameraden machten. Das Trio erreichte auf seiner Suche Lettland und blieb dort einige Tage; wir mussten unsere lettischen Kollegen kontaktieren, sie zu bitten, dass sie nicht Jäger unsere besenderten Wölfe abschießen lassen. Wir wussten nicht, was mit den Wölfen geschehen war. Zum Glück ist nichts passiert, sie blieben einige Zeit lang auf dem Gebiet eines estnisch-lettischen Grenz-Rudels, von dem die meisten Anführer offenbar erschossen worden waren, und dann kehrten sie zurück. Derzeit gibt es wieder ein Rudel vernünftiger Größe in dem Revier. Dass die Tiere nach ihren Kameraden suchen gehen, ist durch die Erfahrungen der finnischen Forscher mit Wölfen bestätigt. Unsere nördlichen Nachbarn haben das Verhalten von Rudeln nach dem Tod des Alphaweibchens beobachtet. Es gibt zwischen den Wölfen intensive Beziehungen, die verlorenen Kameraden werden betrauert. Von den finnischen Forschern her ist auch bekannt, dass nach einer Jagd die überlebenden Mitglieder mehr als durchschnittlich heulen und beunruhigt sind und nach ihren Freunden suchen.
Hall kommt gut zurecht
Das Trio kehrte nach der fehlgeschlagenen Suche zurück und nach einiger Zeit trennte sich das Wolfsmännchen Habe von den anderen. Es war Ende Januar, Zeit der Trennung der Rudel, und wahrscheinlich verließ er das Revier, denn wir registrierten bis zur Schneeschmelze nur ein im Revier des Halliste-Rudels streifendes Wolfspaar – Wolfsmännchen Hall und seine weibliche Begleiterin. Anfang Februar zeigte das Verhalten des Paares ganz deutliche Erscheinungsformen von Revierverhalten – sie streiften weit herum, markierten das Revier und bekundeten in jeder Hinsicht die Besetzung des Reviers durch Hall. Zusätzlich begann die Hitze des Weibchens und heute ist bekannt, dass Anfang Mai dieses Jahres [2013] in dem Revier Nachkommen geboren wurden, die offensichtlich die Gene von Hall und seiner Partnerin tragen.
Halliste und Kikepera
2013 wurde auch das Alphaweibchen von Kikepera mit einem Senderhalsband versehen, deshalb werden wir kurz die beiden benachbarten Reviere beschreiben. Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen Halliste und Kikepera: während große Moore die Region von Kikepera beherrschen, dominiert in Halliste die typische Landschaft Estlands: Wald im Wechsel mit kleinen Feldern. Für Wölfe sind Moore keine geeigneten Lebensräume, weil es dort weniger Nahrung gibt, und deshalb benötigt ein in einem Moor lebendes Rudel größere Lebensräume. Dass die Hypothese stimmt, ergibt sich aus den Ergebnissen der telemetrischen Untersuchungen. Das Kikepera-Rudel hat ein doppelt so großes Territorium wie das Halliste-Rudel. In der Region mit den unsrigen ähnlichsten Bedingungen, in Skandinavien, variiert die Größe der untersuchten Wolfslebensräume sehr stark. Die Gebiete der untersuchten 28 Wolfsrudel lagen zwischen 259 und 1676 km². Die festgestellte Populationsdichte von Rehen wurde zur Größe der Lebensräume in Bezug gesetzt – desto mehr Rehe, desto kleiner die Wolfsreviere. Dieser Bezug gilt auch für unsere Wölfe – im Revier des Kikepera-Rudels bewegen sich deutlich weniger Rehe als in Halliste. Dass das Gebiet weitgehend von der Verfügbarkeit der Nahrung abhängt, kann an Alaska veranschaulicht werden, wo das Revier eines Rudels bis zu 30.000 Quadratkilometer beträgt. Die Sache ist jedoch komplizierter: manchmal bedeutet ein kleines Revier nicht einen reich gedeckten Tisch, sondern schlicht, dass dort wenig Platz ist. Zum Beispiel muss in Litauen, wo es wenig Wälder gibt und geeignete Lebensräume klein sich, ein Wolfsrudel mit einer Fläche von nur 100 bis 200 Quadratkilometern zurecht kommen. Aber Wölfe passen sich den Bedingungen an. Obwohl es uns nur gelang, Hall sieben Monate lang zu folgen, wurde nachgewiesen, dass das Gebiet seines Rudels etwa 450 Quadratkilometer betrug, was für Estland durchschnittlich ist. Die telemetrischen Untersuchungen zu dem im Kikepera-Moor besenderten Weibchen haben erst begonnen, aber es kann bereits festgestellt werden, dass das Territorium ihres Rudels doppelt so groß ist. Da die beiden 2013 besenderten Weibchen aus zwei benachbarten Rudeln kommen, ist es eine gute Gelegenheit, das Verhalten benachbarter Rudel zu beobachten: zwischen den Rudeln wird eine klare Grenzlinie eingehalten und zusätzlich gibt es eine Pufferzone. Daraus kann man ableiten, dass sich die Reviere der Rudel nicht überlappen. Neue Untersuchungen mit frischen Daten werden aber noch kommen.