Zweite April-Woche: Tragödie im Moor

Text: Kristel Vilbaste
Fotos: Arne Ader

Blaue Wasserspiegel sind nun überall. Sogar auf den Feldern
 
Dunkelheit hüllt die Silhouette des Waldes in ihren abendlichen Schleier, nach und nach verstummen Wald und Moor. Dann hallt plötzlich herzzerreißendes Wildschwein-Geschrei aus dem Moor, der im Nest hockende Weißstorch erschrickt und die Kraniche stoßen ärgerliche Rufe aus.
 
Die vier Wetter-Zeichen dieser Woche:
Singende Buchfinken,
erste Huflattiche,
Schmetterlingsflüge vor dem Regen
und der Beginn der Überflutungen.
 
Die Wölfin hat das Rudel verlassen und hält sich abseits, der Rest des Rudels ist hungrig und auf der Jagd. Dem Schrei des Ebers nach zu urteilen und den freudig triumphierenden Rufen der Wölfe können wir vermuten, dass das heutige Festmenü aus Wildschwein mit Moorwasser bestehen wird. Man kann sich vorstellen, das die anderen Moorbewohner über das Treiben des Wolfsrudels gar nicht glücklich sind. Sogar der Bär raunzt leise aber deutlich: sein Magen ist gefüllt mit dem Elch-Kadaver, der sich im Moor fand; vitaminreiche Moosbeeren waren eine hervorragende Beigabe zu der herrlichen Mahlzeit. Das Moor selbst trägt nackte Grasbüschel, die kleinen büschelartigen Blütenköpfchen des Wollgrases stehen tapfer aufrecht, aber im See geschehen auch Dinge . . . ein schauriger Schlag und der See beginnt, seine Frühlingslied zu singen, das Lied, das das Eis von den Gewässern und den Moorlöchern löst. Die Zwergschwäne, die in der Abenddämmerung wie weiße Schneebuckel aussehen, bellen freudig über dies Ereignis  – offene Gewässer sind jetzt unser aller Wunschtraum.
 
Ein Rebhuhn pickt an den ersten grünen Blättern auf einem Feld
 
Siit-siit-metsast... (lautlicher Vogelruf, in etwa: von hier, von hier, vom Wald . . .)
Aber am Morgen erklingen, unbeeindruckt vom drohenden Regen, fröhliche Vogelstimmen – das Rotkehlchen beginnt so früh, dass man die Augen nicht mal richtig aufbekommt, um es ausfindig zu machen. Der Zaunkönig rasselt sein Frühlingslied herunter. Dann kommt die Singdrossel und der restliche Drosselchor. Bei vollem Tageslicht fallen Star und Buchfink ein. Es ist ein wenig frostig, aber die Bachstelze wispert in einer Gartenecke. Vorübergehend zwingt der Sturmwind den Vogelgesang zur Ruhe, aber für einen Augenblick bläst der mächtige Wind einen handtellergroßen blauen Fleck in den Himmel und in diesem Fleck jubelt die Lerche, gerade so, wie wir es kennen – „liiri-lõõri-lal-lal-laa“ („tirili-tirili-tirila-la-la“). Frühling!
 
Hallo, Frühling!
Der Frühling hat jetzt auch das Pflanzenreich erfasst. Und 8100 Kinder in ganz Estland rufen sich zu: „Hallo, Frühling!“ und ergänzen ihre Wetter- und Naturbeobachtungen auf einer Internet-Seite. Auf dem Plan sind bereits blühende Leberblümchen, Huflattich, Schneeglöckchen, Haseln und sogar Seidelbast erschienen. Es ist wirklich interessant zu sehen, dass das Leberblümchen zuerst von den Kindern West-Estlands, dann von denen aus Võrumaa etc. beobachtet wird. Aber der Waldkenner Vello Keppart teilt mit, dass der Ahornsaft seinen Fluss eingestellt hat, aber der Birkensaft zu fließen beginnt. Und die Erlen blühen, daher müssen allergiegeplagte Menschen jetzt aufpassen! Kaja Kübar verkündet aus Pärnumaa, dass der Boden sämtlicher Erlenbrüche, die schneefrei sind, übersäht ist mit scharlachrotem Kelchbecherling (Sarcoscypha coccinea) und auf dem Gelände eines alten Gehöftes in der Nähe von Häädemeeste 
zwischen Millionen Schleeglöckchen nun auch die Märzenbecher in Blüte stehen.
 
Der sich schnell zu Wasser wandelnde Schnee machte den Mäusen das Leben elend. Vergangene Woche sah man sie in den Schnäbeln von Krähen wie auch von Eulen
 
Spinnentanz und Schmetterlingsflug
Kaja Kübar fügt hinzu, dass Zitronenfalter ebenso wie der Kleine Fuchs bereits ausgeflogen sind, aber sie hat in diesem Frühjahr bisher noch keine Zecken auf den Tieren gefunden, aber deren Verwandte, die Spinnen, sind herausgekrochen. Frösche und Eidechsen wurden noch nicht gesichtet, obwohl es bereits ein wenig Sonnenwärme gab. Aber Wasser gibt es in Fülle. In diesem Jahr gibt es jedoch kein Hochwasser in der Flüssen, aber riesige Lachen überall auf den Feldern; dort gehen nun Tausende von Gänsen nieder; der Himmel ist bisweilen übersäht von ihnen und mit Schwänen, Enten und sogar Schellenten. Gänsesäger sieht man bereits paarweise. Auf höher gelegenen Stellen stochern Brachvögel mit ihren langen Schnäbeln im Boden, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, sie kennen zu lernen, später kann man sie im Gras nicht mehr sehen.
 
Die Jahreszeit der Überflutungen
In vielen Flüssen steht das Wasser ziemlich hoch. Aivar Ruukel zählt in Soomaa die Zentimeter, aber es sieht so aus, als erreiche die diesjährige Saison nicht die Pegelhöhe des Vorjahres. Aber Spaß auf überfluteten Wiesen, abenteuerliche Einbaum- und Kanufahrten wird es noch etwa einen Monat lang geben. Enn Vilbaste erzählt, in Pärnumaa müsse man vielerorts bereits die Gummistiefel anziehen, um Holz vom Hof herein zu holen ... wenn nicht der Fluss den Holzstoß bereits entführt hat. Der Emajõgi-Fluss ist langsam angestiegen, aber der größte Teil des schmelzenden Schnees geht in Tartumaa bereits dem Ende zu. Der Peipussee lässt seit einer Woche böllerschussartiges Knallen ertönen, aber das hindert die letzten Fischer nicht daran, auf den See zu eilen. Und der Hexenbrunnen von Tuhala quillt über!
 
Zwischen Schneewehen tanzen und paaren sich noch die Kraniche
 
Blumengeschichten: Niemals unter Schmerzen
In der Zeit unserer Vorfahren zeigte das Waldmägdelein einem von großen Schmerzen geplagten Waldarbeiter die Blume „niemals-unter-Schmerzen“ oder Gamander-Ehrenpreis (Veronica chamaedrys). Sein Weib half nun anderen Leidenden mit dieser Blume und verdiente damit ein gutes Stück Geld. Ihr Mann war sehr glücklich darüber, aber dann begann er, sich zu sorgen, das Waldmägdelein könne auch jemand anderem diese Kenntnisse geben. Daher ging er auf die Suche nach dem Waldmägdelein und erschlug es. Aber des Mannes Weib hatte einen bösen Verdacht und fand das sterbende Mädchen gerade als es rief: „Oh niemals mehr sollst Du blühen, von nun an wirst Du ,immer-schmerzend' sein!“ Die Frau bat unter Tränen, das Waldmägdelein möge wenigstens die Seitentriebe der Blütenpflanze übrig lassen. Dies versprach das Waldmägdelein und starb. Seit dieser Zeit trägt der Gamander-Ehrenpreis an seinem Haupttrieb niemals eine Blüte.
 
Zitat:
Wenn es unter den im Frühjahr blühenden Leberblümchen viele rote Blüten gibt, dann werden die Computer-Leute viel Arbeit haben, rote Augen und wenig Zeit, um hinaus zu gehen.
 
Übersetzung Liis und Leonia.


 

EST EN DE ES RU  FORUM

       

Nachrichtenarchive